Havanna: Mehr Kontrast geht nicht

Wer unbedingt den Finger in die verwundete Seele eines lange geschundenen Volkes legen will, muss nach Havanna reisen. Dort, in der Hauptstadt Kubas, bietet sich dem Besucher ein bizarres Kontrastprogramm: Einstige Prachtvillen, abgemagert zu Skeletten, posieren zum Fotoshooting neben Luxushotels und Edelboutiquen von GUCCI und Louis-Vuitton.

Treppenhäuser, aus denen der faule Mundgeruch der Armut strömt, führen ins Nirgendwo. Oder auf Dachterrassen, zu denen der Tagestourist keinen Zutritt hat: Ein wirrer Mikrokosmos aus Operettenbühnen, Boxring, Spielhöllen, Kampfhahn-Arenen und Hurentreffs – Restbestände eines vorrevolutionären Hedonismus, wie ihn die Karibik bis dahin nicht kannte.

Jetzt ist er also auch hier angekommen, der Massentourismus, inklusive Kreuzfahrtschiffen. Dabei hatte es bei unseren früheren Besuchen, zuletzt vor elf Jahren, noch ausgesehen, als könnte sich die „Perle der Karibik“ noch einmal davonschleichen vor den Piraten im Tilleyhut.

Havanna wäre nicht Havanna ohne Hemingway. Touristen strömen in die unscheinbare „Bar Floridita“, wo der große Meister Daquiri-Runden schmiss, und ins Hotel „Ambos Mundos“, wo der Starautor domizilierte, wenn er nicht gerade auf Großwildjagd war oder Alte Männer und das Meer beschrieb.

In der Februarhitze suchen Hemingway-Fans dort nicht nur Schutz vor der karibischen Wintersonne. Gedanklich dürfen sie sich auch im Windschatten einer amerikanischen Edelfeder fühlen – und sei es nur auf einen minzgrün gestampften Mojito.

Verlässt der Tagesreisende diesen faszinierenden Moloch aus Mensch und Moder dann im Bus wieder Richtung Strandhotel, wird er noch einmal Zeuge einer verkehrten Welt, deren Ungerechtigkeit in den karibischen Himmel schreit:

Hunderte von Einheimischen warten an den staubigen Ausfallstraßen in der flimmernden Hitze auf kostenlose Mitfahrgelegenheiten. Hoffen auf gute Seelen, die arme Seelen wie sie auflesen, in ihren Rostmühlen verschlucken und nach ein paar Kilometern in den umliegenden Dörfern wieder ausspucken. Dort, wo ihre Familien auf den Monatslohn von bestenfalls 25 Dollar warten. Oder auf Tauschwaren, die im Hinterzimmer einer Bauruine ergattert wurden. Glühbirne gegen Mopedvergaser. Rohrzange gegen Strumpfhosen für die Mädchen. Oder Kopfwehtabletten für alle.

Dabei war den Seelen, den guten und den armen gleichermaßen, im real existierenden Sozialismus doch eine wunderschöne Welt versprochen worden, in der Jeder alles und Keiner nichts hat.

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Passend zum Kontrastprogramm, das die kubanische Hauptstadt seinen Besuchern bietet, zickte bei unserem gestrigen Besuch auch das Wetter.

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Nachdem sich die bleiernen Regenwolken vom Morgen verzogen hatten, gab der Himmel dann doch noch die karibische Sonne frei. Die spiegelte sich in voller Pracht auf den Kühlerhauben der Oldtimer, die glänzend damit kokettierten, als gebe es wieder einmal kein Morgen.

Aber es ist eigentlich egal: Ob heute, gestern oder morgen – den staunenden Zaungast lässt diese abgedrehte Szenerie ohnehin ratlos zurück.

10 Gedanken zu „Havanna: Mehr Kontrast geht nicht

  1. Tolle Blogbeiträge über Kuba habe ich gerade von Dir entdeckt. Vielen Dank dafür. Ich plane gerade unsere erste Kuba Reise für nächstes Frühjahr. Da kommt Dein Bericht sehr willkommen. Danke!

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  2. Mit dieser lebendigen und informativen Beschreibung , und der Bebilderung dazu , ist man gleich direkt wieder dort – vor Ort ! Ein besonderes Dankeschön !! R..🏝

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  3. Wunderbar beschrieben und fotografisch eingefangen. Ich lese hier schon seit Jahren mit.
    Natürlich steht bei mir Kanada ganz oben auf der Liste, warum ich mitlese. Danke!

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  4. Überragend geschrieben und fotografiert! Aber ich habe auch nichts anderes von Dir erwartet. 😉
    Es scheint doch (noch) spannender zu sein als Palma. Und wärmer!

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  5. Danke, lieber Peter ( und auch dir, lieber Uli). Das Texten war nicht das Problem, dass Fotografieren auch nicht. Gewöhnungsbedürftig ist es für mich allerdings, Fotos und Texte per Handy hochzuladen.

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  6. Das ist wohl einer der besten Beiträge, die ich von dir gelesen habe – hervorragend formuliert, umfassend bebildert, eine komplette Stadtstudie mit vielen Perspektiven, die Anthologiequalität hat. Dass du nach den ausgiebigen (?) Geburtstagsfeierlichkeiten noch Zeit und Musse findest, sowas zu produzieren… wie machst du das? Haben deine Urlaubstage mehr als 24 Stunden?

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