Montréal: Meine Stadt erwacht

KUNST IN DER U-BAHN: Métro-Station Charlevoix.

Wir mussten viel einstecken in letzter Zeit, meine Stadt und ich. Montreal kam wegen Corona auf dem Zahnfleisch daher, ich hatte mein eigenes Päckchen zu tragen. Doch der Silberstreif am Horizont ist nicht mehr zu übersehen. Wir, meine Stadt und ich, sind auf einem guten Weg.

Noch diese Woche sollen Lockerungsmaßnahmen inkraft treten – es wird höchste Zeit. Schließlich leben wir hier seit Anfang Januar mit einer nächtlichen Ausgangssperre. Seit fast einem Jahr sind Kneipen, Cafés und Restaurants geschlossen, Bars und Konzerthallen sowieso.

Joie de vivre sieht anders aus.

Aber die Lebensfreude, für die Montreal bekannt ist, kommt wieder, da bin ich sicher. Auch wenn viele der 5000 Restaurants wohl nie wieder ihre Türen öffnen, werden Essen, Trinken und andere Sinnesfreuden auch künftig wieder oberste Priorität in dieser Vier-Millionen-Stadt haben.

Wir waren viel unterwegs in den letzten Tagen. Wir haben das Glück, am Lachine-Kanal zu wohnen. Von den dortigen Industrieanlagen brachten früher Dampfschiffe Schrauben, Holz und Drahtseile zum Sankt-Lorenz-Strom und dann auf die Weltmeere hinaus. Heute säumen hochpreisige Immobilien das Ufer der Wasserstraße. Statt rußgeschwärzter Frachter tuckern Motorboote, Kajaks und Tretboote mit Plastikschwänen als Gallionsfiguren den Kanal entlang.

St. Henri und Pointe-St.-Charles waren noch vor wenigen Jahren bescheidene Arbeitersiedlungen, in die man ohne Not nicht ziehen wollte. Ich erinnere mich noch an den Taxifahrer, der mich vor 12 Jahren vor der Fabrikloft aussteigen ließ, in die wir nach dem Verkauf unseres Hauses auf dem Land gezogen waren. „Du kommst aus Hudson und wohnst jetzt hier?“, hatte der Mann ungläubig gefragt. „Du musst verrückt sein!“

Heute nennt uns keiner mehr verrückt. Wohnungen in „Le Sud-Ouest“, wie die Montrealer unseren Bezirk nennen, gehören zu den gefragtesten in Montreal.

Aber Montreal hat mehr zu bieten als aufgehübschte Industrieviertel. Die Flaniermeilen, die ich regelmäßig zurücklege, führen mich auf die beiden Inseln Nôtre-Dame und Ste-Hélène. Wo 1967 die Weltausstellung Expo’67 stattgefunden hat, treffen sich mitten auf dem St. Lorenz-Strom Montrealer zum Picknick, Fahrradfahren oder, wenn Covid erst mal verschwunden ist, zu Rockkonzerten mit Zigtausenden von Besuchern.

Höhepunkt unserer Spaziergänge ist die fast drei Kilometer lange Jacques-Cartier-Bridge. Vom höchsten Punkt aus, 49 Meter und damit fast so hoch wie der Ummendorfer Kirchturm, habe ich meine Stadt voll im Blick.

Natürlich darf bei so einer Stadtwanderung meine Lieblingsstraße nicht fehlen: Der Boulevard St. Laurent. Neben dem jüdischen Fischhändler gibt’s beim Portugiesen Piri-Piri frisch vom Grill. Neben dem legendären Diner „Schwartz’s“ gibt’s im „Vieille Europe“ den einzigen Cortado in Montreal, fast so gut wie in Palma und um die Hälfte billiger.

Leonard Cohen begleitet mich auf Schritt und Tritt. Sein Konterfei strahlt mich an mehreren Plätzen an, erst gestern wieder an der Ecke Blvd. St. Laurent/Rue Napoléon.

Wo fange ich an, wo höre ich auf? Klicken Sie sich einfach durch die Fotos. Vielleicht teilen Sie dann ein bisschen meinen Enthusiasmus für diese Stadt, die ich jetzt schon seit fast 40 Jahren Heimat nenne.

Und falls Sie sich fragen, woher die junge Frau in der Fotosammlung kommt: Keine Ahnung. Ich weiß nichts über sie, nicht einmal ihren Namen. Aber sie war so schrill und schräg, dass ich sie einfach fotografieren musste. Und sie hat JA gesagt, als ich sie fragte, ob ich ihr Foto posten darf.

Auch das ist Montreal.

12 Gedanken zu „Montréal: Meine Stadt erwacht

  1. Oh ja, ich weiß, was du meinst. Wir verzehren uns alle nach diesem Stück Normalität. Geduld, wir schaffen das! Liebe Grüße!

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  2. Hallo Herbert, hier beschreibst Du das Montreal, was ich liebe und schätze. Viele dieser bunten Bilder erinnern mich an meinen letzten Aufenthalt, der leider auch schon wieder sechs Jahre her ist. Auf dieser Seite des Teichs scheint auch bald ein Stück Normalität zurück zu sein. Ich freue mich schon auf den ersten echten Stadtbummel, auf ein Eis – nicht to-go – und bei einem Gespritzten in der Fußgängerzone den Abend zu genießen. Grüße von der Bergstraße, möglicherweise nicht allzuweit weg vom Wohnort der Frau Korsch ;-)

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  3. Lieber Herr Bopp! Wie gerne würde ich Montreal einmal anschauen! Als meine Freundin in den 70er Jahren dorthin ausgewandert ist, hatte ich es mir fest vorgenommen! Der Kontakt zu ihr hat per Luftpost jahrelang geklappt. Sie hat geheiratet und 2 Kinder bekommen. Leider habe ich jetzt jahrelang nichts gehört. Was ich jedoch noch weiss ist, dass sie auch bei der „Radio Canada International“ gesprochen hat. Vielleicht kennen Sie sie: Ihr Name ist xxx. Falls Sie sie kennen, wäre ich für einen Hinweis auf Ihre Adresse sehr froh! Darüber hinaus freue ich mich immer über IHRE Berichte, die in Inhalt und „Sprache“ wunderbar unterhaltsam… und mehr sind. Gute Gesundheit für Sie und Ihre Familie. Johanna Korsch

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  4. Dankeschön! Montreal erwartet dich mit offenen Armen (und leider auch mit offenen Straßen, denn die Schlaglöcher gehören nun mal inzwischen zum Stadtbild).

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  5. Ahhhh, danke für die aktuellen Einblicke und die schöne Beschreibung meiner Heimatstadt! Ich schätze auch so sehr diese bunte, dynamische und multikulti-Gegenden von Montréal. Der Boulevard St. Laurent war auch immer meine Lieblingsstraße, mit den vielen tollen Gerüchen, Geschmäckern, Sprachen, Kulturen, so viel Leben und so viel Kreativität auf einer Straße! Ich freue mich sehr für Euch dass langsam alles wieder aufmacht, und dass das Joie de Vivre zurückkommen kann. Ich hoffe auch sehr, nächstes Jahr endlich wieder besuchen zu dürfen!
    Á bientôt! Chrissi

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  6. Was für schöne Zeilen von einem, der jahrelang um den Globus gereist ist. Auch wir erinnern uns oft und gerne an die Tage, als Formel Eins mehr war als nur ein Sport. Der Große Preis von Kanada wäre ohne Dich und Deine Reportagen nur halb so schön gewesen.

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  7. Wunderbares Stadtporträt von einem, der Montréal täglich hautnah erlebt. Wer sich davon nicht becircen lässt, ist selber schuld.

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  8. Lieber Herbert, ich kann mich noch sehr gut daran erinnern als ich das erste Mal nach Montreal gekommen bin. 1998 auf dem Weg vom Flughafen Trudeau in die Innenstadt auf die Hochhäuser zu: Was für ein Anblick. Und dann die Innenstadt mit den vielen Geschäften, der Boulevard St. Laurent mit den vielen leckeren Restaurants….und dann die Treffen mit Lore, Cassian und Dir vor den Toren von Montréal…Menschen und eine Stadt, die mich beim ersten Besuch und auch all die Jahre danach begeistert haben. Einige Kontakte sind bis heute geblieben….außer mit Euch kommuniziere ich noch regelmäßig mit Noor dem marokkanischen Friseur aus der Innenstadt und mit Marie von Radio Canada….und jedesmal nehme ich mir fest vor noch einmal in diese faszinierende multikulti Stadt zurückzukehren. Bis dahin passt schön weiter auf Euch auf.

    Gruß Harry

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