Im Blindflug durch Montréal

Es gibt Momente als Uber-Fahrer, da möchtest du deinen Wagen am liebsten mitten im Rush-Hour-Verkehr stehen lassen und nur noch weg hier. So einen Moment hatte ich gestern. Ausgerechnet in einem Teil von Montreal, den ich am wenigsten kenne und mag, streikte das Navi.

Auf dem Rücksitz: Eine Frau mit Zahnschmerzen, die ihren Termin beim Dentisten bereits am Vormittag verpasst hatte, weil die U-Bahn ausgefallen war. Glücklicherweise bekam meine Passagierin gleich einen neuen Termin für den Nachmittag. Und jetzt das.

Laval, eine 430-tausend-Einwohner-Trabantenstadt am nördlichen Zipfel der Vier-Millionen-Metropole Montreal, gehörte noch nie zu meinen Lieblings-Destinationen. Eine Schlafstadt mit ein paar Einkaufszentren und gefühlten tausend Strip-Schuppen, Bars und Fastfood-Ketten. Charmant ist anders.

Dass ausgerechnet auf dem Weg dorthin mein Handy-Bildschirm schwarz wurde und auch noch die Apple-CarPlay-Verbindung zum Auto-Monitor den Geist aufgab, werde ich den Tech-Gurus im Silicon Valley nicht so schnell verzeihen.

„Wie lange noch?“, fragt die Frau auf dem Rücksitz und hält sich die Hand über das schmerzverzerrte Gesicht. „Genau 7 Minuten, Madame. Gleich sind sie erlöst“, sage ich und lüge zum ersten Mal in meiner Uber-Karriere einen Fahrgast schamlos an.

Die Wahrheit ist: Ich habe keine Ahnung, wie lange wir noch unterwegs sein werden. Das Navi sagt es mir nicht und unser momentaner Standort ist mir so fremd wie der Marktplatz von Timbuktu.

Ich weiß nur, dass um mich herum die Hölle tobt.

Es ist Freitagnachmittag vor dem langen Wochenende. Ganz Montreal scheint Richtung Norden zu strömen – dorthin, wo die Wälder, Seen und Cottages sind. Dort, wo auch ich jetzt lieber wäre als auf dieser sechsspurigen, gottverdammten Stadtautobahn, auf der die Sommerhitze flimmert.

„Um sicher zu sein: Wie hieß noch einmal ihre Zieladresse, Madame?“, frage ich meine Passagierin, die sich mittlerweile einen Seidenschal ums Gesicht gebunden hat. Zahnschmerzen können brutal sein.

„Rue Blablabla gleich um die Ecke der Avenue Blingblingbling, dort wo früher die Kirche Sanktsanktsankt stand, die neulich abgebrannt ist.“

Aha! Jetzt weiß ich, wohin die Reise geht – zumindest die grobe Richtung. Wer kennt nicht die Bilder der abgefackelten Kirche, die damals tagelang durch die Medien gingen?  Günter Jauch hätte seine Freude an mir gehabt. Der Kandidat gewinnt zwar keine Million, aber die Erkenntnis, wo sich die gesuchte Zahnarztpraxis befindet.

„Da ist sie!“, ruft Madame plötzlich vom Rücksitz entzückt, „da ist die Praxis!“

„Schon klar“, sage ich mit der Gelassenheit des Routiniers der Landstraße und bastle an meinem Lügenkonstrukt weiter „Kenne die Gegend gut“.

Madame hat übrigens von dem Navi-Ausfall nichts mitbekommen. Warum sie nie den schwarzen Handy-Bildschirm mit dem abgestürzten GPS entdeckt hat, bleibt ihr Geheimnis. Ihr Beinahe-Blackout wegen der Zahnschmerzen wäre eine Erklärung dafür.

Das Handy ruht jetzt im Apple-Laden. Das „Motherboard“, also das Herzstück des Rechenzentrums, hatte den Geist aufgeben. In drei Stunden kann ich es abholen.

Heute lege ich eine Uber-Pause ein. Mehr Nervenkitzel braucht der Mensch nicht an einem langen Wochenende.

Ein Gedanke zu „Im Blindflug durch Montréal

  1. Na wie schön ,dass die Tour zum Zahnarzt dann doch noch so glimpflich ausgegangen ist !
    sicher hattest du noch ein Bonus Guthaben bei einer Zahnfee. !

    Ein Quäntchen Glück gehört ja wohl immer dazu – oder ?

    Aber eins will ich dir sagen , den Marktplatz in Timbuktu / Mali , kannst du getrost vergessen ! Ich war dort und meine „Glückssträhne“ in Afrika kennst du ja besser als kaum ein anderer !

    Auf ein besonders schönes Wochenende – hüben und drüben ! R🌴

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