Der alte Mann und das Rad

Gestern auf dem Weg zu Les Îles-de-Boucherville Foto: Chris Neal

Gestern hatte ich einen meiner bisher schönsten Fahrrad-Tage. Mit meinem Freund Chris ging es auf der Fähre über den Sankt-Lorenz-Strom weit über die Stadtgrenzen hinaus, auf die Inseln von Boucherville.

Diese Mischung aus Großstadt und Natur, Wasser und Land, Entspannung und spannenden Geschichten und hinterher noch eine coole Kneipe … diesen Film müsste man einfach anhalten koennen.

Ausflüge wie diese sind meine Highlights geworden, mein Lebenselixier, meine Urlaube, meine Abenteuer, mein Weihnachten, meine Sonn- und Feiertage, meine Sehnsuchts-Ecken und Wohlfühl-Inseln.

Wenn ich im Sattel sitze, fühle ich mich wie der Indianer, der keinen Schmerz spürt. Sobald ich vom Rad steige, kommen die Schmerzen zurück.

Polyneuropathie ist ein Biest, das sich schwer beschreiben lässt – und gleich gar nicht zähmen.

Mir wird immer klarer: Ich werde wohl nie mehr reisen koennen, auch nicht nach Deutschland oder Mallorca. Diese Erkenntnis macht mich oft traurig, manchmal wütend nach dem Motto: „Warum ich und nicht die, die ohnehin den ganzen Tag vor der Glotze hocken und ihre Beine auf den Schemel legen?“

Ich bin viel gereist in meinem Leben. Das war gut so. Verpasste Gelegenheiten sind bei mir die Ausnahme und nicht die Regel. Es kommt keine Bitterkeit auf.

Aber ich bräuchte wie jeder Mensch meine Beine und vermisse schmerzlich jeden Schritt, den ich nicht mehr tun kann.

Noch vor vier Jahren haben genau diese Beine mehr als 900 Kilometer auf dem Jakobsweg zurückgelegt. Heute schaffen es diese Beine mithilfe von zwei Stöcken gerade mal von hier zur gegenüberliegenden Markthalle.

Das Rad ist meine Rettung. Im Sattel und im Wasser fühle ich mich am wohlsten. Beides steht mir zur Verfügung. Das eBike im Keller, der Pool auf dem Dach.

Was für ein Leben!

Ich habe das riesige Glück, eine großartige Familie um mich zu haben. Und gute Freunde, die so manche Schwachstelle in meinem Leben kompensieren. Menschen, die langsamer mit mir laufen, weil ich am Stock gehe. Oder schneller fahren, wenn sie mich auf dem eBike begleiten.

Man sehe mir das sehr persönliche Philosophieren an diesem glutheißen Montrealer Morgen nach. Manchmal müssen die Dinge beim Namen genannt werden, damit man mit einigen von ihnen besser umgehen kann. Und die anderen wieder schätzen lernt.

JAKOBSWEG 2019.

STÄNDIGE BEGLEITER: Stöcke und Freunde.


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6 Gedanken zu „Der alte Mann und das Rad

  1. Ich fühle mit Ihnen. Ich habe genetisch bedingten und unheilbaren Muskelschwund, vor allem in den Beinen, und kann sehr gut nachvollziehen, wie Ihnen zumute ist. Zum Glück habe ich – wie Sie – ein Leben mit vielen schönen Reisen und auch vielen sportlichen Aktivitäten gelebt, bevor dieser Sch*** diagnostiziert wurde.

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  2. Wenigstens hast Du den Jacobsweg geschafft, als es noch ging und die Winter auf unserer Lieblingsinsel verbracht, bevor Corona kam und dann Deine körperlichen Einschränkungen. Die Erinnerungen aber bleiben (jeder hat da seine eigenen Anker) und bei mir die Hoffnung, dass ich noch genügend Zeit habe, um meine Wünsche in Realität umzusetzen. Wünsche Dir, dass Dir noch genügend Spielraum bleibt für Deine Freiheiten.

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  3. Klasse, wie Du das packst. Beethoven nannte sowas “dem Schicksal in den Rachen greifen”! Ich hab ja auch Polyneuropathie und gebe auf dem Roller entschieden eine bessere Figur ab als zu Fuß.

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  4. Deine Traurigkeit kann ich gut verstehen. Man möchte doch so gerne… und kann nicht mehr. Die Kräfte reichen aus unterschiedlichen Gründen dafür einfach nicht aus!
    Das ist zwar von Verstand her zu verstehen, aber Verstehen und Fühlen sind Zweierlei.

    Vor rd. 60 Jahren hat mir einer meiner Chefs während der Lehrzeit mal gesagt: „Mädle merkt dir eins: im Leben kann dir alles genommen werden: Geld und Gut, die Heimat, die liebsten Menschen und vieles mehr. Aber EINES kann dir Niemand nehmen: die Erinnerungen!!! Und genau die sind es, die dich in den lausigsten Zeiten am Leben erhalten.“ – Der Mann war in russischer und tschechischer Kriegsgefangenschaft – das sagt wohl alles.
    Welch eine Lebensweisheit, die ich nie vergessen werde.

    Und du hast einen so unendlich reichen Erinnerungsschatz, wie wohl selten Jemand.
    Schlage darin jeden Tag neue Seiten auf. Und füge mit deinen Radtouren, Freundes- und Familientreffen auch jeden Tag wieder noch neue hinzu!

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  5. Wie meine immer sehr vielseitig aktive, umtriebige, mit zig shunts bestückte, seit 2019 beinamputierte und Freundin Ortrud sagt: „Es gibt so viele Menschen, denen es viel schlechter geht als mir…. es geht mir doch gut, ich kann halt nur nicht mehr laufen und das ist Sch…..“

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  6. Es ist ein schwacher Trost – aber wenigstens hast du dich, was deine Krankheit betriff, zuvor ausgelebt und ausgetobt und kannst auf schoene Erinnerungen zurueckblicken!

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