Der zweistöckige Mann

GESTERN UND HEUTE: Auf dem Camino waren die Stöcke noch Kür …
… inzwischen gehören sie zur Grundausstattung.

Mehr als zwei Jahre ist es her, dass mich eine fiese Krankheit namens Polyneuropathie in die Knie gezwungen hat. Seither sind zwei Wanderstöcke meine ständigen Begleiter. Ohne sie wäre ich nicht einmal mehr in der Lage, so wie gestern, mal kurz in die Kneipe um die Ecke zu gehen, um einen guten Freund zu treffen.

Meine Welt ist im Laufe der letzten Jahre auf den Radius eines Bierdeckels geschrumpft. Aber wenn du es nicht mehr in die Welt hinaus schaffst, dann holst du die Welt eben zu dir.

So wie neulich, als sich in einer mexikanischen Bar das halbe Altersheim von gegenüber um mich scharte. Und plötzlich merkst du: Ganz so schlimm ist es gar nicht, am Stock zu gehen. Du freust dich noch immer über die kleinen Dinge des Lebens. Auch wenn sich die Freude manchmal etwas bittersüß anfühlt.

Ich freue mich, wenn ich die Metro betrete und sich eine junge Frau oder ein junger Mann wie der Blitz erheben, um mir ihren Platz anzubieten. Und ja, es sind wirklich meistens junge Frauen und junge Männer, die sich als erste erheben. Warum? Keine Ahnung. Vielleicht ist es das Helfer-Syndrom.

Auch das darf ruhig erwähnt werden: Es sind übrigens vorwiegend Männer und Frauen asiatischer Herkunft, die mir ihren Platz anbieten. Und nein, mit Rassismus hat diese ethnische Abgrenzung nichts zu tun. Es ist einfach eine Beobachtung, die ich als gehbehinderter Mann fast täglich mache.

Dazu gehören auch die zwei Kinder, die es sich vor ein paar Tagen auf einer Bank bequem gemacht hatten und von der Mama aufgescheucht wurden, um dem Mann mit den Stöcken Platz zu machen, noch ehe ich die Bank richtig erspäht hatte.

Ist es Respekt vor dem Alter oder einfach Höflichkeit? Ich weiß es nicht. Es ist jedenfalls eine schöne Erfahrung.

Oder neulich, als wir in ein kleines Theater ohne nummerierte Sitze kamen und die Regisseurin ungefragt die beiden besten Sitze im Saal mit ihrem silbernen Jäckchen bedeckte. Die Reservierung galt uns.

Oft sind Menschen aber auch einfach nur doof. Sie weichen auf dem schmalen Gehweg keinen Zentimeter und lassen es lieber auf eine Kollision ankommen statt einen Schritt zur Seite zu machen.

Gelegentlich kommt es auch zu Missverständnissen, auch daran musste ich mich erst gewöhnen. Fast täglich wünscht mir irgendjemand zwar keinen „Buen Camino“ wie auf dem Jakobsweg, aber doch „einen schönen Spaziergang“. Das lasse ich dann einfach so stehen.

Auch wenn ich mal, was eher selten vorkommt, zum Vorbild für andere werde, habe ich nichts dagegen. Eine ältere Dame fragte mich auf offener Straße, ob sie mich fotografieren dürfe. Ähm, wie bitte? Mich?

Ja, sagte die Frau. Sie möchte ihrem Mann gerne ein Foto von mir zeigen, damit er sieht, dass man auch mit einer Gehhilfe noch nett daherkommen kann. Er weigere sich nämlich trotz zunehmender Behinderung, sich Stöcke anzuschaffen.

Als Gehbehinderter weiß man auch die Barrierefreiheit einer Stadt zu schätzen. Montreal ist da ziemlich weit vorne. So sind inzwischen fast die Hälfte der Metro-Stationen mit komfortablen Aufzügen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität ausgestattet. Der Rest wird zurzeit nach und nach behindertenfreundlich nachgerüstet.

Dieser Trend zur weitgehenden Barrierefreiheit kommt mir in doppelter Hinsicht zugute: Als Gehbehinderter und als eBiker. Denn auch Fahrräder sind in den U-Bahnen meiner coolen Stadt willkommen.

So ganz fremd war mir das Leben mit Stöcken ohnehin nicht. Auf dem Camino gehörte der morgendliche Griff zu den Wanderstäben genauso zum täglichen Ritual wie die Wasserflasche, die immer gefüllt sein musste.

Dass mein Leben als zweistöckiger Mann so abrupt von der Kür zur Pflicht wurde, hätte ich allerdings dann doch nicht so schnell erwartet.


Entdecke mehr von BLOGHAUSGESCHICHTEN

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

5 Gedanken zu „Der zweistöckige Mann

  1. Ich liebe deine beschriebene Szene der Frau, die so gerne ein Foto von dir machen möchte!

    Statt Grenzen auszutesten ziehen sich viele enorm zurück, geben Spielräume auf. Ich konnte mich jüngst nicht sattsehen an einer Frau, die auf beiden Augen von Makula-Degeneration fast blind ist, dabei Energie, Lebensfreude und Spaß beim Tanzen geradezu ausstrahlte. Davon motiviert werde ich jemand challengen, die sich aufgrund dieser Erkrankung eher zurückzieht.

    Sonnige Mallorca-Grüße, Doris

    Gefällt 1 Person

  2. Ich mag Deine anschaulichen Schilderungen. Da ich damals Deine Jacobsweg-Tour verfolgt habe und sich auch bei mir die eine oder andere altersbedingte Veränderung bemerkbar macht, finde ich es bemerkenswert, wie sich der Mensch immer wieder an die Lebensumstände anpasst. Zwar habe ich 15 Jahre Abstand zu Dir und dementsprechend bin ich noch „frei“ in meinem Bewegungs-/Handlungsradius, aber Deine Schilderungen machen Mut, dass immer noch was geht, wenn die Einschränkungen dominanter werden – allerdings nur, wenn der Wille da ist, noch am Leben teilzunehmen.

    Gefällt 1 Person

  3. Hier in München mache ich als von Muskelschwund Betroffene auch häufig die Feststellung, dass es meistens Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund sind, die Schwerbehinderten ihren Sitzplatz anbieten. Heute hatte ich eine etwas heftige Diskussion mit einer jungen „Dame“, die allen Ernstes mit ihrem quer geparkten Elektroroller komplett den Fußgängerweg versperren wollte, und auch nicht davon abließ, als sie mich mit meinem Rollator kommen sah.

    Gefällt 1 Person

  4. Two thoughts: I am constantly reminded how many nice people there are in the world. Reduced capacity is the price we pay for the privilege becoming older, a privilege denied to many friends over the years.

    Gefällt 2 Personen

Hinterlasse einen Kommentar