Quebec: Wo bleibt der Aufschrei?

Geht doch: Multikulti bei der Gay Pride Parade. © Bopp

Die Notaufnahme-Stationen der Quebecer Krankenhäuser sind zum Bersten voll. Millionen haben keinen Hausarzt. Hunderttausende Lehrer und Krankenhaus-Bedienstete streiken seit Tagen für mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen. Die Zahl der Obdachlosen in Montreal erreicht Rekordhöhen. Viele Suppenküchen wissen nicht mehr, wie sie die Körbe der Bedürftigen füllen können.

Und was macht die Quebecer Regierung? Genehmigt sich eine Gehaltserhöhung von 30.000 Dollar für jeden Abgeordneten. Und erlässt nebenher noch ein Gesetz, das an Rassismus grenzt. Es erschwert Studenten, die von außerhalb Quebecs kommen, den Zugang zu den drei englischsprachigen Universitäten (darunter die weltberühmte McGill University), weil die finanziellen Hürden für die meisten Studierenden künftig zu hoch sein werden.

Schaffen sie es trotz dieser finanziellen Herausforderung dann doch noch auf eine der Unis, müssen sie künftig neben ihrem Studium noch ein schwieriges und zeitraubendes Französischprogramm durchlaufen – für die meisten StudentInnen wohl in der Kürze der vorgeschrieben Zeit fast ein Ding der Unmöglichkeit.

Ich liebe Quebec und ich finde die meisten Quebecer toll. Ihre Lebensart, ihr Charme, ihr Humor, Essen und Trinken, die Bars und Bistros, die Festivals, die Musikszene, ihre Leidensfähigkeit bei arktischen Temperaturen und ihre kindliche Freude nach dem langen Winter, die 1001 Kinos und Theater – das alles finde ich klasse.

Dass hier Französisch gesprochen wird, war einer der Gründe dafür, dass ich vor gut 40 Jahren von Manitoba nach Montreal gezogen bin und mich hier vom ersten Tag an wohlfühlte. Es ist die Sprache, die mich gedanklich immer näher an Europa zu binden wusste. Wer würde dieser Mischung aus „savoir vivre“ und „American way of life“ schon widerstehen können?

Ich finde es wunderbar und wichtig, dass Quebec so auf den Erhalt seiner offiziellen Landessprache drängt. Französisch ist Teil der Geschichte Quebecs, seiner Identität und auch seiner Liebenswürdigkeit. Montreal gilt als das „Paris des Nordens“. Sie ist die Stadt meines Herzens.

Aber wozu diese Ausgrenzung allem Englischen gegenüber? Warum werden hier Sprachen – und damit Volksgruppen und Menschen – gegeneinander ausgespielt?

Wohl weil die frankokanadische Regierung befürchtet, Französisch könnte im Meer der anglokanadischen Sünde ertrinken. Eine These, die zumindest in demografischer Hinsicht an Absurdität nicht zu überbieten ist.

CAQ nennt sich die Partei, die In Quebec seit fünf Jahren die absolute Mehrheit hat. CAQ steht für Coalition Avenir Québec. Es ist eine Partei, die Sprachenpolitik auf die Spitze treibt – mit Methoden und Gesetzen, die manchmal am gesunden Menschenverstand der Verantwortlichen zweifeln lassen.

Ein Beispiel von vielen: Die Quebecer Sprachenpolizei („l’office de la langue française“) hat das Recht, ohne Voranmeldung, ohne Durchsuchungsbeschluss und ohne ersichtlichen Grund Computer und Handys von Firmen mit mehr als 50 Beschäftigten einzusehen. Die geschäftliche Korrespondenz muss, wo irgendwo nur möglich, auf Französisch geführt werden.

François Legault heißt der Mann, der dies alles zu verantworten hat. Ein Mann, von dem behauptet wird, er verleugne seine Englischkenntnisse bewusst, um sich damit die Sympathie der vorwiegend französischsprachigen Wählerinnen und Wähler zu erschleichen.

Es gibt einen O-Ton von diesem Mann, in dem er sich dafür entschuldigt, dass er unter vorwiegend englischsprachigen Kanadiern aufgewachsen ist. „Ich hasse sie genauso wie ihr“, soll er 1998 bei einer Rede als – damals noch – Kandidat der separatistischen Parti Québècois gesagt haben. (Legault selbst bestreitet, diesen Satz gesagt zu haben. Ohrenzeugen, darunter der renommierte Journalist Graham Fraser, schwören Stein und Bein, dass das Zitat von ihm stammt).

Gemein. Perfide. Nationalistisch. Rassistisch. Autokratisch. Opportunistisch. Hetzerisch. Heuchlerisch. Gefährlich. Die Rhetorik in den sonst eher gemäßigten englischsprachigen Medien spitzt sich zu. Was allerdings weitgehend fehlt, ist ein Aufschrei bei den französischsprachigen Zeitungen, Sendern und Nachrichtenportalen. „Die wachen erst dann auf“, glaubt ein mit mir befreundeter Journalist, „wenn sich auch ausländische Medien mit diesem Thema befassen“.

Dazu ist es bisher, zumindest in Europa, nicht gekommen. Vermutlich passiert zu viel vor der eigenen Haustür, um noch Spalten und Sendeplätze einem obskuren kanadischen Bundesland widmen zu können, das irgendwo hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen ein Sprachenproblem hat.

Noch einmal: Es sind nicht DIE Quebecer, die uns in dieses Dilemma geführt haben. Es ist DIE Quebecer Regierung, die dieses vergiftete Klima zwischen Anglophonen, Frankophonen und sogenannten Allophonen (wie wir) zu verantworten hat.

Ich habe eben einem Montrealer Weihnachtschor mit jungen Leuten zugehört, die bei uns um die Ecke auf Englisch, Französisch und sogar Spanisch sangen. Wunderbar, wieviel Spaß sie daran hatten, von einer Sprache in die andere zu wechseln. Der junge Dirigent, très français, sorgte dafür, dass die Liedtexte dem Publikum in drei Sprachen erklärt wurden.

Warum, habe ich mich hinterher zum tausendsten Mal gefragt, schaffen es unsere Politiker in Quebec City nicht, Menschen zu ermutigen, mehr als eine Sprache zu sprechen, anstatt sie dafür zu ächten, ja zu bestrafen.

Hat es mit Macht zu tun? Mangelnder Empathie? Politischem Unvermögen? Der Kolumnist Robert Libman hat in der heutigen Montreal Gazette eine andere Erklärung dafür: „Dieser Regierung fehlt der moralische Kompass“.

Stolz in Weiß und Blau: Quebecer Nationalfeiertag St. Jean Baptiste. © Bopp

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5 Gedanken zu „Quebec: Wo bleibt der Aufschrei?

  1. Pingback: Fast eine Weihnachtsgeschichte: Die Helden von der Notaufnahme | BLOGHAUSGESCHICHTEN

  2. In der Tat ist mir von diesen Umtrieben bisher nichts unter die Lesebrille gekommen. Es ist vermutlich eine Mischung aus den vielen und immer mehr werdenden „Baustellen“ der grassierenden Nationalismus-Seuche und der immer noch vorherrschenden Meinung, dass Kanada ein gelungenes Beispiel von gelingender Einwanderung, Multikulti und menschlichem Miteinander ist. Das System wird als einigermaßen hart, aber fair angesehen, der auch dort stattfindende Rechtsruck zur Kenntnis genommen, aber als im Grunde genommen gemäßigt gegenüber anderen Ländern wahrgenommen.
    Ebenso wie die aktuelle Entwicklung in Polen schon teilweise als neuer Gamechanger in Europa gefeiert wird, obwohl das bei objektiver Betrachtung viel fragiler ist, als es scheint.
    Manchmal kommt es mir vor, als sei die ganze Welt inzwischen so aus den Fugen geraten, dass wir uns an jeden kleinen Strohhalm klammern und meinen, er sei ein Dachbalken.

    Danke für diesen nachdenkenswerten Beitrag und trotz allem einen schönen dritten Advent.
    Viele Grüße aus dem ostwestfälischen Grenzgebiet (zu Niedersachsen)
    Anja

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  3. It bothered me that when we drove across Canada that everything was in both English and French until we got to Quebec and road signs were only in French. We need more inclusion everywhere in the world and less tribalism.

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  4. Ein mutiger und im besten Sinne des Wortes denkwürdiger Beitrag, Herbert, der hoffentlich nicht ungehört verhallt. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich in meinem stillen und abgeschirmten Rentnerdasein mittendrin bin in dieser Misere, aber bisher nur Bruchteile davon realisiert habe. Irgendwie habe ich mich immer durch den Garten der Unlüste durchlaviert. Ob uns der bevorstehende Jahreswechsel vielleicht doch einige Silberstreifen am bewölkten Quebecer Horizont beschert?
    Peter aus Sherbrooke

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  5. Leider beschraenkt sich der Arzt- und Spitalpersonalmangel nicht nur auf Quebec. BC ist nicht besser dran. Viele Walk-in-clinics schliessen und Spitaeler sind ausgebucht bis weiss-Gott-wann. Bin eigentlich zufrieden, dass ich meinen Leistenbruch nach 4 Monaten operieren lassen kann.

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