Von Menschen und Raubtieren

Ich hatte das große Glück, in einer tierliebenden Familie aufwachsen zu dürfen. Bei uns wurde weder gejagt noch geangelt. Dafür hatten wir, solange ich mich erinnern kann, immer Hunde und Katzen, zwischendurch auch Schweine und Hühner.

Hunde und Katzen wurden geliebt, Schweine und Hühner gegessen. Nach dem Krieg musste man als sechsköpfige Familie schauen, wo man bleibt.

In unserem Aquarium schwammen mehr Goldfische als ich zählen konnte. Selbst in dem Teich, den mein Vater im Garten angelegt hatte, tummelten sich noch Fische aller Art.

Als uns in unserem Wald einmal ein Rehkitz zulief, päppelten wir es mit einer Milchflasche auf. Irgendwann war Bambi verschwunden. Es hieß, es sei über den Zaun gesprungen. So ganz glauben kann ich diese Geschichte bis heute nicht. Wie gesagt: Nach dem Krieg waren Lebensmittel rar.

Von einem Nachbarbuben hörte ich, sein Papa habe ihm einen Stallhasen gekauft, den er jeden Tag füttern musste. Auch Hansi war irgendwann weg. Was Nachkriegs-Mütter am Sonntag so alles zusammenbrutzelten, hatte uns Kinder nicht zu interessieren.

Für manche Erwachsene war die Tierliebe der Kinder ein Geschäftsmodell. Am Eingang der „Bärenhöhle“, einem riesigen Tropfsteingewölbe im schwäbischen Bad Urach, wurden Besucher von Menschen in Bärenkostümen empfangen. Als Souvenir konnte man sich gegen Bezahlung fotografieren lassen.

Dass Bären als Fotomotive herhalten mussten und nicht Giraffen oder putzige Mäuse hat einen Grund: In dem unterirdischen Gewölbe sollen sich zu Urzeiten Höhlenbären aufgehalten haben.

Auf dem Foto sind übrigens mein Bruder Eberhard und ich zusammen mit Tante Rosa und Onkel Albert aus Österreich zu sehen.

Ganz schräg ging’s damals in den Schulen zu, zumindest in unserer Schule. Einmal im Jahr kam ein reisender Schulfotograf mit einem oder mehreren Tieren in seinem Lieferwagen. Besonders beliebt waren Raubtiere. Die wurden dann jedem Schüler in den Arm gedrückt, während der Fotograf den Auslöser betätigte.

Die Fotos fanden offenbar reißenden Absatz, denn solange ich mich erinnern kann, tauchte derselbe Fotograf immer wieder in unserer Schule auf, jedes Mal mit verschiedenen Tieren. Affen waren auch mal dabei und auch Meerschweinchen. Die fanden wir allerdings nicht so spannend.

Was für ein armes Tier ich fürs Foto aufgedrückt bekam, weiss ich nicht mehr so genau. Es könnte ein kleiner Löwe sein, oder auch ein Tiger oder ein Luchs. Irgendein Raubtier wird es schon gewesen sein.

Manchmal kam der Fotograf auch mit einer Schlange, die man sich um den Hals drapieren musste. Ich kann mich erinnern, dass ich mich da geweigert habe. Irgendwann war Schluss mit dem Zirkus.

Was LehrerInnen heute wohl sagen würden, wenn ein reisender Fotograf mit einem Privatzoo im Kastenwagen auf dem Pausenhof vorfahren würde? Über den pädagogischen Wert dieser seltsamen Fotosessions ließe sich diskutieren.

Den Handschuh auf dem Raubtier-Foto mussten die Kinder übrigens nicht etwa zum Schutz vor Kratzspuren während der Fotosession anziehen. Ich trug ihn damals, weil meine Hand frisch genäht war.

Am Tag, als uns der Dorf-Elektriker den ersten Schwarzweiß-Fernseher ins Haus brachte, war ich so aufgeregt, dass ich mit einem Affentempo – hier ist es wieder, das Tier in mir – meinem Vater Bescheid sagen wollte, der irgendwo im Dorf unterwegs war.

In einer Kurve raste ich mit einem entgegenkommenden Holzarbeiter zusammen, der ebenfalls mit dem Fahrrad unterwegs war. Der Mann trug eine Holzsäge über der Schulter. Zielsicher landete die scharfe Säge genau in meiner Hand. Eine fette Narbe ist mir bis heute geblieben. Kosmetische Chirurgie kannte man damals noch nicht in Ummendorf.

Aber Raubtiere.


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3 Gedanken zu „Von Menschen und Raubtieren

  1. Bei uns in der Grundschule war damals auch jemand mit einer Würgeschlange. Ob er oder Sie noch mehr dabei hatte weiß ich leider nicht mehr – ein Beweisfoto habe ich leider ebenfalls nicht. „Dein“ Raubtier ist übrigens mit ziemlicher hoher Wahrscheinlichkeit ein Löwe 😉

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  2. An so einen reisenden „Zoo“, der Schulen besuchte, kann ich mich auch noch erinnern. Das Ehepaar, das diesen betrieb, hatte etliche riesige Schlangen dabei. Manche meiner Klassenkamerad:innen bekamen diese auch zum Fotografieren um den Hals gehängt – ich hatte mich wohlweislich ganz nach hinten in die letzte Reihe verdrückt und entging dieser Prozedur. ;-)

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