
So vieles relativiert sich, wenn man es aus der Krankenhausperspektive betrachtet. Schmerzen, die vor ein paar Tagen in deiner Wahrnehmung unfassbar brutal und kaum auszuhalten waren, sind plötzlich nur noch das, was sie sind: sehr starke Schmerzen. Essen, um das man im Alltag einen großen Bogen machen würde, weil es nicht nur unappetitlich aussieht, sondern auch schrecklich schmeckt, wird plötzlich zum Energiespender, weil man ja irgendwas zu sich nehmen muss, um zu überleben.
Die hygienischen Bedingungen in einem Krankenhaus sind sehr speziell. Selbst wenn dein Zimmer ein eigenes Bad hat, ist es eben nicht dein Bad, sondern ein Ort, den schon viele kranke Menschen vor dir benutzt haben und viele nach dir aufsuchen werden. Da musst du durch.
Es gibt Momente, da fühlt man sich in so einem Krankenhaus wie in einem All-inclusive-Hotel. Da ist dieser Wahnsinnsblick über die Stadt, da sind die geregelten Essenszeiten. Da ist sogar der rote Klingelknopf, der dir den besten Room Service bietet, den du dir wünschen kannst.
Aber die Momente, die dich in die Realität zurückholen, sind nie weit. Wenn du bei deinen vorsichtigen Gehversuchen über den Krankenhausflur gerade mal wieder einen dieser „Keinem-geht-es-schlechter-als-mir-Momente“ hast, hilft ein verstohlener Blick in das eine oder andere Zimmer. Es gibt viele, denen es schlechter geht als dir.
Menschen, denen Gliedmaßen amputiert werden mussten, Männer und Frauen, die mutterseelenallein in ihren Betten liegen und Löcher in die Luft starren. Die aussehen, als seien sie mehr tot als lebendig. Die keine Lore haben, die sie besucht, und keinen Cassian, der sich regelmäßig bei dir meldet.
Und dann ist da dieses 5-Sterne-Personal deiner All-inclusive-Intensivstation. Männer und Frauen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit auf Knopfdruck an deinem Bett stehen, morgens um drei den Notarzt holen, wenn sie ihrer eigenen Diagnose nicht trauen. Die einfach für dich da sind.
Da ist Aischa, diese junge Haitianerin, die dir schon morgens um fünf einen guten Tag wünscht, mit einem Lächeln im Gesicht, das man am liebsten einfrieren und mit nach Hause nehmen möchte.
Wenn du sie dann in so einer Nacht fragst, woher sie eigentlich ihre Fröhlichkeit bei all dem Leid hernehme, mit dem sie umgeben ist, antwortet sie so verblüffend direkt mit einem Satz, den man bei Menschen ihres Alters nur selten hört: Von der Bibel. Jeden Tag vor dem Aufstehen lese sie eine Seite daraus. „Aber erst, nachdem ich alle meine Social-Media-Accounts gecheckt habe.“ Deine heidnische Häme, die du in Situationen wie diesen schon mal gerne an den Tag legst, ist plötzlich ganz weit weg.
Da ist Alida von der Karibikinsel Aruba, die sich geschworen hat, eine bessere Krankenschwester zu werden als das schroffe Personal, dem sie vor Jahren während ihres eigenen Patientenaufenthalts in einem Krankenhaus in einem anderen Teil der Stadt begegnet war. Lass es dir sagen, Alida: Es ist dir gelungen. You are the best!
Auch der Blick aus dem Fenster relativiert sich, wenn du ihn aus der Krankenhausperspektive tust. Das Uber-Taxi, das gerade an der Ampel hält, weckt Erinnerungen an deine eigene Zeit als Fahrer. Werde ich je wieder Uber-Storys bei wildfremden Menschen sammeln können, die ich durch den Dschungel der Millionenstadt fahre?
Der Mann auf dem E-Bike dort hinten auf dem McDonald’s-Parkplatz: Werde ich je wieder selbst in die Pedale treten können?
Ich weiß es nicht. Ich hoffe es. Und wenn’s nicht mehr sein soll, dann nehme ich mir vor: Nicht bitter werden! Das bringt niemanden weiter.
Und wenn gar nichts mehr geht, gibt’s immer noch die Bibel. Aber erst noch vorher kurz einen Blogpost schreiben.
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kaum bist Du aus der Narkose erwacht, schon siehst Du Dich wieder biken und Uber-fahren… Wenn das keine gute Prognose ist! 💖
Du schaffst das, Herbert! Weiter so!
Liebe Grüße aus stickig heißem Calabria 🤗
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Mir gefallen Deine Texte – die Art wie Du erzählst, lässt mich live dabei sein.
Du nimmst Dir die Zeit und Kraft, Deine Erlebnisse und Eindrücke zu „Papier“ zu bringen. Das machen die Wenigsten, wenn sie im Krankenhaus liegen und mit sich selbst beschäftigt sind. Aber dabei öffnest Du ein Fenster, durch das Du uns „da draußen“ zeigst, dass nicht alles selbstverständlich ist (Gesundheit und wohltuende Betreuung) und Du lässt Besucher zu Dir herein, sofern Sie sich etwas Zeit nehmen und hier kommentieren.
Also alles Gute, egal wie der Verlauf der Heilung voranschreitet. Ich glaube, ein Begriff, den Du im letzten Blog verwendet hast, steht dabei zentral im Raum: Demut
Philipp/philbehr
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Herzlichste Genesungswünsche, lieber Herbert. Wie schmerzlich optimistisch, Deine Zeilen zu lesen. Alles Liebe und Gute – Simone
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Ich wünsche Dir alles Gute, lieber Herbert! Auf dass Du bald wieder auf Dein E-Bike kannst und vielleicht sogar die eine oder andere Uber-Tour fährst! Get well soon!!! Liebe Grüße aus Stuttgart, Andrea
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„Do the best you can til you know better, then when you know better do better“-maya angelou
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