Federleicht und doch so schwer

Wer als Mensch mit eingeschränkter Mobilität – auf Deutsch: Gehbehinderung – in einer Millionenstadt wie Montreal lebt, macht so seine Erfahrungen. Um es vorwegzunehmen: Die meisten davon sind positiv.

In der U-Bahn steht immer jemand auf und bietet dir seinen Sitzplatz an. Im Café begleitet dich die Kellnerin bis vor die Tür, um sie zu öffnen. Wenn du dann noch mit einem schicken Rollator daherkommst, lernst du sogar neue Leute kennen.

Zum Beispiel ein älteres chinesisches Paar. Es war die Frau, die mich auf der Rue-St-Denis angesprochen hat. Ob sie wohl ein Foto von meinem Rollator machen dürfe, der wäre doch perfekt für ihren Mann. Der Mann war sichtlich weniger begeistert von der Idee und stützte sich ermattet auf seine Wanderstöcke.

Die Frau beherrschte das Multitasking perfekt: Sie fotografierte, googelte nebenher nach dem Modell auf dem Handy und machte gleich einen Preisvergleich auf verschiedenen Portalen. „Good price“, befand sie schließlich. Und dann: „Not made in China. Very good!“ Sagt eine Chinesin.

Dieser Rollator – es hat lange gedauert, bis ich mich zum Kauf durchringen konnte. Dabei war es vor allem die psychologische Schranke, die mich abgehalten hat. Mit Stöcken bist du in der Wahrnehmung der meisten Menschen noch immer sowas wie der fröhliche Wandersmann. Mit Rollator bist du gehbehindert.

ES IST ANGERICHTET: Der Rollator-Sitz als Esstisch.

Meine Lebensqualität hat sich mit dem Rollator um ein vielfaches verbessert, ich kann wieder längere Strecken zu Fuß zurücklegen. Heute waren es 6.5 Km.  So viel bin ich seit Oktober 2022 nicht mehr gelaufen. Mache ich zwischendurch mal schlapp, bietet die integrierte Sitzfläche genug Platz zum Ausruhen, notfalls auch zum Essen.

Außerdem habe ich festgestellt, dass ich wieder mehr fotografiere als früher. Der Griff zum Handy fällt leichter als wenn du umständlich zwei Stöcke richtig positionieren musst, um die Kamera zu zücken.

In der U-Bahn lässt sich mein Acre Carbon Ultralight im Notfall zusammenschieben. Während ich auf dem Behindertensitz Platz nehme, stütze ich mich auf dem Rollator ab – mit angezogenen Handbremsen, versteht sich. Ein einziges Mal habe ich das vergessen – und schon machte sich das Ding selbstständig. Gleich mehrere Passagiere machten sich daran, den ultraleichten „Acre Carbon“ einzufangen.

Nicht alle Metro-Stationen in Montreal sind barrierefrei. Besonders schwierig zu navigieren ist zum Beispiel die Haltestelle „Charlevoix“, ganz in unserer Nähe. Die letzten 20 Stufen bis zur Plattform müssen umständlich ohne Hilfe des Rollators zurückgelegt werden.

Achtung, Schlaglöcher!

Aber auch das erweist sich bisher als problemlos. Es ist immer jemand da, der dir dein Gerät trägt, während du dich am Geländer entlang in Richtung Gleis hangelst. Interessant: Meistens sind es sehr junge Menschen, die ihre Hilfe anbieten: Schüler und StudentInnen. Frauen öfter als Männer, auffallend viele Menschen mit Migrationshintergrund.

Aber nicht immer klappt alles reibungslos. Viele Straßen in Montreal sind in einem hoffnungslos kaputten Zustand, leider auch die Gehwege. Da bleiben die relativ kleinen Räder schon mal in einem Schlagloch stecken, das dich leicht zu Fall bringen kann.

Vielleicht hätte ich doch die Cross-Country-Version meines Rollators kaufen sollen. Der Vorteil: Damit bin ich auch auf unebenem Gelände auf der sicheren Seite. Der riesige Nachteil: Der „Carbon Overland“, der als „der robusteste Gelände-Rollator der Welt“ angepriesen wird, ist mit 6.7 Kilo fast zwei Kilo schwerer als meine Version.

INKLUSION in einem Montrealer Café: Toilette für alle.

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6 Gedanken zu „Federleicht und doch so schwer

  1. Ich bin Ende April einige Tage in London gewesen, und durfte dort auch sehr viele rücksichtsvolle und höfliche Menschen kennenlernen, die mir ohne zu zaudern Sitzplätze anboten, Türen aufhielten, oder den Rollator auch mal eine Treppe hochschleppten, wenn der Aufzug defekt war – was mir allerdings in dieser riesigen Stadt nur einmal widerfahren ist…
    Im Gegensatz zu Montreal und London sind es in München leider hauptsächlich junge Leute, die keinerlei Rücksicht auf Behinderte nehmen. Wenn jemand hilft, dann ist es fast immer eine Person mit sichtbarem Migrationshintergrund.

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  2. Danke für diesen Kommentar. Es tut mir leid, dass vielen Münchnern offenbar die Sensibilität gegenüber Gehbehinderten fehlt. Das macht mich direkt stolz und dankbar, in einer Stadt wie Montreal leben zu dürfen.

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  3. So ein schicker Rollator! Den schaffe ich mir als nächstes an, wenn mein gutes Teil hier mal die Grätsche machen sollte.
    Beneidenswert, wie rücksichtsvoll in Montreal mit Behinderten umgegangen wird. Das lässt hier in München schon sehr zu wünschen übrig. Das geschieht allerhöchstens in zwei von zehn Fällen, dass einem als behinderte Person mit Rollator mal freiwillig ein Sitzplatz angeboten wird! Von den anderen Höflichkeiten wie Türe aufhalten ganz zu schweigen.
    Liebe Grüße!

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  4. Wow, 6,5 km – das ist ja der Wahnsinn! Ganz toll! Wir freuen uns so für dich! Bald wirst du mich überholen? Ich schaffe 10 bis 12 km (wenn es sein müsste und unter Qualen wäre da sicherlich noch Luft noch oben). Ach ja, und eines kann ich auch aus eigener Erfahrung nur bestätigen: behilflich sind und Sitzplatz anbieten tun meistens junge Menschen und davon oft welche aus anderen Kulturen (wo “die Alten” noch einen anderen Stellenwert einnehmen als bei uns).

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