
In Kanada wird dieses Wochenende Thanksgiving gefeiert. Als Ummendorfrer Bub war Erntedank immer etwas ganz Besonderes für mich. Schließlich war ich der „Cowboy vom Umlach-Valley“. Aus besonderem Anlass gibt es heute einen Auszug aus meinem Erzählroman „DAS GIBT SICH BIS 1970“.
Es war die Zeit als “Fury” über Schwarzweiß-Bildschirme galoppierte und “Lassie” Leben rettete. Als Wyatt Earp für Recht und Ordnung sorgte und Joey Cartwright auf der “Bonanza”-Ranch immer breiter wurde, so dass mancher um seinen Fernsehapparat fürchten musste.
Meine Helden hießen Jimmy, Billy und Casey. Und alle durften sie schießen, nur ich nicht. Sie schwangen sich auf ihr Pferd und ritten über die Prärie. Ich schwang mich auf mein Fahrrad und fuhr den Riedweg entlang in Richtung Kiesgrube. Meine Prärie war das Umlach-Tal. An der Biegung des Baches lieferte ich mir wilde Gefechte mit Joey, Jimmy, Bill und Casey. Weit und breit kein Wyatt Earp.
Wenn der Riedweg nur mir gehörte und mich keiner sah, formte ich meine Hand zu einem Revolver und schoss auf alles, was sich bewegte. Mehrfach kaltblütig erschossen habe ich Herrn Fessler von gegenüber. Er hatte es nämlich für notwendig gefunden, meine Eltern darüber in Kenntnis zu setzen, dass er mich auf frischer Tat mit dem Moped meines Bruders ertappt hatte. Dafür musste Herr Fessler jetzt büßen.
Auch Frau Scheible starb im Kugelhagel. Leider, aber ich konnte nicht anders. Sie hatte mich verpetzt, nachdem ich in ihrem Lädele einen Kaugummi eingesackt hatte. Ich vermeide bewusst das Wort stehlen, denn zu einem Diebstahl gehört unrechtes Handeln. Ich habe vielleicht falsch gedacht, aber richtig gehandelt.
Am Tag zuvor hatte mir Frau Scheible nämlich einen zweiten Kaugummi vorenthalten, obwohl auf der Verpackung des Ersten ganz klar stand: “Bei Endziffer 7 gewinnt der Käufer einen Kaugummi.” Die Endziffer war bei mir dummerweise unleserlich. Aber ich bin bis heute davon überzeugt, dass es eine 7 war. So gesehen stand mir auch der zweite Kaufgummi zu. Und weil mir Frau Scheible diesen verweigerte, besorgte ich mir ihn eben anderweitig. Und wurde dabei ertappt. Meine Eltern waren trotz der Scheible-Schelte nicht weiter beunruhigt. Sie wussten, dass sie keinen Dieb großgezogen hatten.
Mit der Zeit wurden die Schießereien auf dem Fahrrad langweilig. Aber der Gedanke, auf dem Rücken eines Pferdes über Wiesen und Felder zu reiten, ließ mich nicht los. Manchmal machte ich nach der Schule einen kleinen Umweg und stattete dem Hufschmied einen Besuch ab. Der Hufschmied hieß zum Nachnamen Schmied und war bei allen nur als der „Schmiedschmied“ bekannt.
Wenn er die glühenden Eisen auf den Huf brannte, zischte es und das Pferd tat mir leid. “Stell dich nicht so an”, sagte der Schmied dann, “der Gaul spürt doch gar nix!” Wenn der Schmiedschmied guter Dinge war, setzte er mich auf den Pferderücken, nahm den Gaul an die Leine und ließ ihn auf dem staubigen Hof eine Runde mit mir drehen.
Ein Pferd, das wär’s gewesen. Aber eine Kuh tut’s auch.
Kühe gab es in meinem Dorf jede Menge. Die kleinen Bauern hielten sich nur zwei oder drei für die eigene Milchproduktion. Große Landwirte, wie der Schanzenbauer, hatten bis zu 40 Kühe. Den ganzen Sommer über mussten die Kühe morgens auf die Weide und abends, rechtzeitig zum Melken, wieder ins Tal getrieben werden. Und weil sich die Bauern die Kosten für die neumodischen Elektrozäune an den Hängen sparen wollten, heuerten sie Schulkinder an, die während der großen Ferien ihre Viehherde bewachten.
Je größer der Bauer, desto höher fiel der Hirtenlohn aus. Wer am Ende eines Sommers 80 Mark bekam, war reich. Manche Jungs aus der Schule wurden im Herbst zum Dank für ihre Dienste von der Bäuerin zum Erntedankessen eingeladen. Es gab selbstgebackenes Brot und Honig aus der eigenen Imkerei, den sie zu „Honigspätzle“ durch ein Teigsieb drückte.
Wer Glück hatte, durfte nach dem Essen ein Stück Käse und einen Laib Bauernbrot mit nach Hause nehmen, manchmal auch eine luftgetrocknete Blutwurst oder ein Stück Schinken aus der Räucherkammer. Oft gab es frische Butter dazu, den die Magd im Fass angerührt hatte.
Ich hatte Glück. Mein Bauer war zwar nicht der größte im Dorf, aber er hatte ein großes Herz. Wenn es kalt wurde und in Strömen regnete, kam er mit dem Traktor auf der Weide angetuckert und brachte eine Milchkanne voll mit heißer Suppe. Die löffelte er dann mit mir zusammen unter einem Sonnenschirm aus, den er gegen den Regen aufgestellt hatte.
Das Leben des Cowboys in der oberschwäbischen Tiefebene kann einsam sein. Die Kühe waren in der Regel so faul oder einfach auch nur diszipliniert, so dass ein Eingreifen nur selten nötig wurde. Meist kamen sie nach einem kurzen Ausreißversuch von ganz alleine wieder zu ihrer Herde zurück. Der Auf- und Abtrieb morgens und abends war Routine. Ganz so aufregend wie das Leben auf der “Bonanza”-Ranch war mein Leben beim Fesslinger-Bauer nicht.
Zum Glück gab es in der Nähe meiner Weide das Jordanbad, ein Sanatorium, in dem knochenlahme Städter ihre Glieder nach dem Vorbild des bayerischen Priesters Sebastian Kneipp so lange in Wassertröge eintauchen, bis Wochen später der Schmerz nachlässt oder der Kurgast gar als geheilt entlassen werden kann.
Die Sanatoriums-Besucher aus allen Teilen Deutschlands waren bei den Ummendorfern gerne gesehen. Sie kehrten in den lokalen Wirtschaften ein, ließen üppig Trinkgeld liegen und waren meist guter Dinge. Schließlich waren sie ja im Urlaub. Hin und wieder war von einem “Kurschatten” die Rede, den sich vor allem männliche Kneippjünger zulegten. Darüber schwieg man aber in Ummendorf oder erzählte sich davon höchstens hinter der vorgehaltenen Hand.
Die meisten der knochenlahmen Kurgäste, die ihre Heilung im Jordanbad suchten, kamen aus dem Ruhrgebiet und sprachen nach der Schrift, was auf Ummendorferisch so viel heißt wie: sie können Hochdeutsch. Dies wiederum ist den meisten Dörflern schon deshalb suspekt, weil sie es selber nicht können. Für den gemächlichen Oberschwaben, für den ein “Sodele” oder “Jetzetle” schon als abendfüllendes Unterhaltungsprogramm gilt, klingt ein schneidiges “Wattdenn-wattdenn” nicht nur fremd, sondern geradezu aufschneiderisch. Und aufschneiden – das geht gar nicht im Laugenbrezelland.
Ich liebte die Zugereisten. Ihrem für meine Ohren gepflegten Hochdeutsch zuzuhören, wenn sie an meiner Herde vorbeizogen, war jedes Mal wie ein kleiner Urlaub nach Neukirchen-Vluyn, Duisburg oder Recklinghausen. Und wie schnell die alle reden konnten! Ich fragte mich oft, wie träge sich in deren Ohren wohl unser Spätzlesschwäbisch anhören musste.
“Hey, Kurzer, stell dich mal neben die Kuh!”, rief mir einer der Schnellsprecher zu und zückte auch schon die Kamera. Der Mann trug kurze Hosen, braune Socken und Sandalen. Ich hatte wie immer meine kurze Lederhose an, aber keinen Tirolerhut, wie es der Fotograf gerne gehabt hätte. “Neben die Kuh? Mach ich gern”, sagte ich, “aber nur für ein Zehnerle.”
Das war’s: Zehn Pfennig für ein Foto mit Kuh und Kind – eine Geschäftsidee war geboren. Warum ich darauf nicht schon viel früher gekommen bin, ist mir bis heute ein Rätsel. Schließlich brauchte ich dringend Geld für ein neues Fahrrad.
Das Geschäft florierte. Meistens gab es statt einem Zehnerle 50 Pfennig. Und als ich dann auch noch anbot, mich nicht nur stehend neben einer Kuh, sondern in gewagter Pose sogar auf dem Rücken des Tieres fotografieren zu lassen, rollte der Rubel erst recht. Für eine Mark war jeder dabei, der später dem Kumpel in Grevenbroich oder Mettmann Urlaubsfotos von einem schwäbischen Cowboy vorführen wollte. Elsa war die einzige Kuh, die das mit sich machen ließ. Sie war etwas fußlahm und sehr geduldig.
Die Idee mit dem Hirtenbub, der sich für ein Honorar fotografieren ließ, hatte sich in Ummendorfer Cowboykreisen schnell herumgesprochen. Und wie das so ist mit Geschäftsideen, werden sie schnell kopiert. Ein Hirtenjunge nach dem anderen stellte jetzt ein Schild auf die Wiese: “Roland reitet für eins fünfzig!” oder auch “Otto und Elsa für nur zwei Mark!” Auch ich bot meine Dienste nicht unbescheiden an. “Herby für eine Handvoll Dollars”.
Doch Hochmut kommt vor dem Fall. Es war ein Sonntag und in der Ferne klingelten die Kirchturmglocken. Die Kurgäste vom Jordanbad kamen in Scharen und strahlten heute noch zufriedener als sonst. Elsa ließ sich wie immer geduldig von mir reiten.
Weil ich von Papa wusste, dass man investieren muss, um zu gewinnen, versuchte ich mein Geschäftsmodell ständig zu verbessern. Inzwischen hatte ich mir aus einem Strick und den beiden Holzgriffen der Tragetaschen, die das Modehaus in der Nachbarstadt seinen Kunden mitgab, ein Paar selbstgemachte Steigbügel zugelegt. Alles deutete auf einen perfekten Tag hin. Bis plötzlich meine Eltern vor mir standen.
Auf ihrem Sonntagsspaziergang hatten sie einen kleinen Abstecher zu mir gemacht. Sie waren fassungslos. Von meiner Modelling-Karriere hatten sie bis zu diesem Tag keinen Schimmer gehabt. Es wäre mir peinlich gewesen, ihnen zu erzählen, dass ich mich gegen Geld auf dem Rücken einer fußlahmen Kuh von fußlahmen Ruhrpottlern fotografieren lasse. So etwas macht man nicht in Ummendorf. Erst recht nicht, wenn man der Sohn des Malermeisters ist, der es in der Handwerkerinnung zu etwas gebracht hatte und von seiner Kundschaft sehr genau beobachtet wird.
Papa sprach bei meinem Anblick von “peinlich” und davon, dass die Leute ja denken könnten, wir hätten es nötig, das Kind zum Betteln zu schicken. Mama tat vor allem die Kuh leid. Für mich ging der lukrativste Sommer meiner kurzen Cowboy-Karriere zu Ende.
Immerhin reichte der Hirtenlohn für ein Fahrrad. Kühe waren gestern. Fortan wurde das Rad gesattelt. Abenteuer gab es natürlich auch mit meinem Drahtesel. Aber so schön wie die, die ich als „Cowboy vom Umlach-Valley“ erlebte, war keins.
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Ist der Handel noch so klein, bringt er mehr als Arbeit ein! Herrlich, ich sehe dich förmlich vor meinem geistigen Auge auf Elsa, mit den improvisierten Steigbügeln. Das Schild „Herby für eine Handvoll Dollars“ – das ist wirklich der Knaller! Not macht erfinderisch! Weißt du noch, wie damals der Wechselkurs war?
Es hat mich sofort an die Nachkriegszeit in Berlin erinnert. Neben dem amerikanischen Militär kamen auch Touristen aus Übersee. Einige wohlmeinende „Nenntanten“ haben mich oft als Stadtführer an die Besucher vermittelt. In der Regel war deren Zeitplan so eng getaktet, dass die Führung ins Wasser fiel. Der kleine „Piefke“ wurde dann aber oft mit 20 Dollar entschädigt.
Der Wechselkurs war damals vier zu eins! Innerlich habe ich also einen Luftsprung gemacht und war natürlich stolz wie Bolle! Ich erinnere mich, dass ich mir davon einen Belichtungsmesser gekauft, etwas auf mein Postsparbuch eingezahlt und eine eiserne Reserve im Bücherschrank hinterlegt habe.
Der Höhepunkt war für mich aber der großartige Weihnachtsmarkt in Ost-Berlin. Man konnte Westmark wieder vier zu eins in Ostmark tauschen! Ich habe dann die Taschen und die meiner Freunde mit echten Thüringer Bratwürsten gefüllt und für zu Hause Christbaumschmuck und echte Holzschnitzereien aus dem Erzgebirge gekauft. Das waren schöne Erlebnisse!
Deshalb stemme ich mich auch gegen den digitalen Trend der Bezahlmethoden! Ich glaube, der Umgang mit Bargeld vermittelt jungen Menschen ein besseres Verständnis für den Wert des Geldes. Bares ist Wahres und bedeutet auch Freiheit!
Cheerio,
R🌴
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Eine gar herrliche Geschichte, ganz wunderbar erzählt. Und sie hat jetzt beim Lesen viele schöne Kindheitserinnerungen wachgerufen. Danke.
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👍
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