
Was macht eigentlich so ein Kanada-Korrespondent den ganzen Tag? Er raucht viel, trinkt eimerweise Kaffee, sitzt oft vor dem Fernseher und reist durchs Land, wenn es das Thema erfordert. Vor allem aber redet er sich hinter dem Mikrofon den Mund fusselig. Schließlich wollen seine deutschsprachigen Hörerinnen und Hörer wissen, was im zweitgrößten Land der Welt so alles passiert.
Es ist schon eine Weile her – etwa 30 Jahre –, da bat mich die Deutsche Botschaft in Ottawa, für die hauseigene Embassy Newspaper über den Alltag eines Kanada-Korrespondenten zu schreiben. Passend zum Jahreswechsel fiel mir dieser Beitrag jetzt wieder in die Hände.
Der Text – ungefiltert und ohne Rücksicht auf politische Korrektheit – stammt aus einer Zeit, in der Indianer noch Indianer hießen, die in Reservaten lebten und nicht in rigendwelchen „indigenous communities“. Weil dieser Beitrag für mich eine Art Dokument der Zeitgeschichte ist, soll er hier erstmals veröffentlicht werden:
Die Stimme Kanadas
Grizzlybären, russische Stripperinnen und die Schande von Ben Johnson. Das – und noch viel mehr – bekommt der deutsche Radiohörer aus Kanada geboten
Die Nacht vom 16. auf den 17. November 1995 war die Nacht, als das Telefon an meinem Bett nicht stillstand. Nun ist es bei einem freien Hörfunk-Korrespondenten, der seit 14 Jahren für die Rundfunkanstalten der ARD aus Kanada und Alaska berichtet, eher die Regel als die Ausnahme, mitten in der Nacht wachgeklingelt zu werden — aber gleich neunmal?
Was die Leitungen in jener Novembernacht fast zum Glühen gebracht hatte, war weder die Entdeckung der Titanic (früher!), noch der Fischereikrieg (später!) — und auch das Referendum in Quebec war schon seit drei Wochen unter Dach und Fach.
Wofür sich die ARD-Sender — und damit gut 15 Millionen Zuhörer — in jener Nacht so brennend interessierten, waren die Schweißfüße eines Holzfällers, genauer: die Erkenntnis eines kanadischen Wissenschaftlers, wonach Grizzlybären vom Geruch menschlicher Schweißfüße angezogen werden. Als Beispiel führte der Wildbiologe einen lumberjack an, der sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, ehe sich ein ausgewachsener Grizzly auf ihn stürzte.
Nein, glamourös ist das Leben des Auslandskorrespondenten nicht immer. Aber abwechslungsreich: Da interessiert sich der deutsche Radiohörer für russische Stripperinnen, die aus Kanada ausgewiesen werden sollen, weil sie ohne Papiere arbeiten. Da will ein Sender drei Minuten lang über eine Geisterstadt in British Columbia informiert werden, die komplett zu verkaufen ist.
Das Elchsterben auf den Schienen der Alaska Railway interessiert den deutschen Radiohörer mehr als die jüngsten Arbeitslosenzahlen in Kanada — dies glaubt inzwischen nicht nur die Frau an meiner Seite, die sich lange Zeit mit meiner Themenauswahl schwer tat. Auch die Kolleginnen bei den Sendern sind der Meinung, Buntes laufe besser.
Besonders deutlich wurde dies nach dem Mauerfall. Als nach 1989 ein neuer Ost-Sender nach dem anderen auf Antenne ging, wehte in meinem Büro in Hudson bei Montreal der Duft von Freiheit und Abenteuer. „Marlboro-Themen“ waren jetzt wieder gefragt: harte Männer, die ihrer schweren Arbeit nachgingen und dabei unglaublich viel Spaß hatten — das Ganze am besten auf dem Rücken wilder Pferde.
Nach dem tristen Osten war jetzt der wilde Westen angesagt. Entsprechend sah dann auch die Einkaufsliste beim Korrespondenten aus: Cowboys, die den Indianern beim Buffalo-Roundup halfen, oder auch die Geschichte eines Abenteurers, der auf dem Motorrad den Nordpol bezwingen wollte. Als Reiseproviant hatte der Mann die Lenkstange mit getrockneten Rosinen vollgestopft. Am Pol angekommen ist er nie; schon am zweiten Tag ging ihm der Sprit aus.
Aber auch für andere Kanada-Themen interessierten sich „die Neuen“: der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB), der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) oder auch der Jugendsender „Radio Fritz“ aus dem ehemaligen Ost-Berlin. Ein Mann aus Neufundland, der mit glühenden Seilen Eisberge zerkleinert, ging in einer Nacht neunmal über die Sender; ein Steuerbeamter aus Vancouver, der bei den Schnarch-Weltmeisterschaften Erster geworden ist, immerhin siebenmal.
Doch keiner schaffte den Sprung ins deutsche Hörfunkprogramm häufiger als Ben Johnson: Nach der „Schande von Seoul“ hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, mit genau 113 Korrespondenten-Beiträgen über den gefallenen Dopingsünder auf Sendung zu gehen. Als Ben Johnson dann Jahre später den gesammelten Manuskriptberg anlässlich eines Interview-Termins in meinem Büro zu Gesicht bekam, fiel ihm nur ein Kommentar ein: „Wow!“
Gut fürs Geschäft ist — after all these years… — auch ein anderer: Pierre Elliot Trudeau. Eines von zahlreichen Trudeau-Themen: der Ex-Premier als Ruheständler, der sich gelegentlich als Reiseführer betätigt. Nicht weniger gefragt ist Ex-Gattin Maggie, dem deutschen Publikum noch bestens als die schillerndste aller First Ladies ein Begriff — die Regenbogenpresse lebte seinerzeit gut und lange von den Eskapaden der Premiersgattin. Wie blass musste da doch später beim NDR-Hörer in Uelzen die Dame Mila wirken.
Selbst als bekannt wurde, dass Mrs. Mulroney ungefähr so viele Schuhe im Schrank stehen hat wie Imelda Marcos, waren die Sender nicht für das Thema zu begeistern.
„Wäre von Frau Mulroney irgendwann einmal ein Techtelmechtel mit Mick Jagger bekannt geworden“, gab ein Kollege in der Redaktion ganz unverblümt zu, „ließe sich über einen Korrespondentenbeitrag reden.“
Doch nichts scheint die Seele des deutschen Radiohörers mehr zu beflügeln als der kanadische Indianer — Karl May lässt grüßen! Gut tausendmal schon standen Mohawk, Sioux oder Cree im Mittelpunkt meiner Kanada-Berichterstattung: Ob während der Oka-Krise oder beim Lachsdisput, ob in Zeiten bitterer Indianer-Armut oder auch bei glorreichen Goldfunden im Reservat — der ARD-Hörer war dabei. Dass bei vielen Sendern die brisantesten Ureinwohnerthemen — Drang zur Selbstbestimmung, Drogen- und Alkoholprobleme, Selbstmordserien etc. — oft zu kurz kommen, liegt nicht etwa an der nachlässig gehandhabten Chronistenpflicht des Korrespondenten.
Fast immer ist es ein Prioritätenkonflikt der Sender, wenn es um sogenannte „harte Geschichten“ geht. Motto: Mit Problemthemen werden wir schon aus Mostar versorgt. Aus Kanada bitte leichte Kost! So werden Haushaltsberatung, Kabinettsumbildung und Sparprogramm im deutschen Hörfunk eben häufig in den Nachrichten abgehakt, während die Magazinsendungen Platz machen fürs Bunte.
Die Hörerpost, die regelmäßig bei mir eingeht, bestätigt den Hang zum Schrägen: Ein Unterwasser-Eishockeyteam aus Winnipeg, über das ich mehrfach berichtet hatte, wurde so lange mit Post aus Germany eingedeckt, bis der Mannschaftskapitän um Gnade bat: Er sehe sich außerstande, jeden Brief einzeln zu beantworten. Der Sender drehte den Posthahn schließlich zu.
Gelegentlich sind die Grenzen zwischen bunt und bitter allerdings fließend, da kommt dann Ernstes auch mal ins Unterhaltungsprogramm, etwa in den „Flohmarkt“ von SWF-3. Beispiel: Als nach dem Quebecker Referendum klar war, dass bei der Auszählung geschummelt wurde, bestellte der zuständige Magazin-Redakteur bei mir einen Beitrag zum Thema „Wahlbetrug in Quebec“. Doch gesendet wurde der seriös aufgemachte Bericht nicht etwa im politischen Journal, sondern unter der Rubrik „Wahr oder unwahr?“
Die Hörer konnten während der Live-Sendung per Anruf im Studio darüber rätseln, ob sie das Thema, in diesem Fall also den Wahlbetrug, für realistisch halten oder nicht. Die Rätselsendung ging ähnlich knapp aus wie das Referendum: Die Hälfte der Anrufer hielt einen Wahlbetrug in Kanada für ausgeschlossen.
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Das hat richtig Spaß gemacht!
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Das gefällt mir sehr. Schon deshalb, weil sie ja doch auch über etliche recht skurrile Dinge berichtet haben, und für so was habe ich seit jeher ein Faible. ;-)
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What a great and timely time capsule – especially with talk of yet another referendum on Quebec separation on the rise again!
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War auch damals schon „wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing“? Das muss doch bitter gewesen sein, oder nicht?
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