Chiclets: Kleines Fenster zur Welt

Chiclets: Kinder in der tunesischen Wüste filzen unseren Land Rover. © Bopp

Chiclets. Oft habe ich mich gefragt, warum Kinder in ärmeren Ländern häufig nach Kaugummi fragen  – nicht nach irgendeinem Kaugummi, sondern nach Chiclets. „Gimme Chiclets!“, sagt der Junge in der Altstadt von Havana. „Chiclets!“, ruft eine Gruppe Halbwüchsiger an der Fähre, die mich von Buenos  Aires nach Montevideo über den Río  de  la  Plata bringt.

„Dénos Chiclets, señor“, ruft das Mädchen auf der mexikanischen Hochebene, in die ich mich mit meinem Reisekumpel Bernie verirrt hatte. Chiclets, Chiclets, Chiclets.

Dass ich ausgerechnet heute, an diesem verschneiten Spätfrühlingstag in Montreal, an all meine Chiclets‑Erfahrungen denke, hat einen Grund. Beim Digitalisieren einiger Dias ist mir ein Foto unter die Lampe gekommen, das es in sich hat.

Es war Anfang der 70er‑Jahre, als mich mein Chefredakteur in den Norden Afrikas schickte, um in Tunesien über den gerade aufblühenden Fremdenverkehr zu berichten. In Hammamet, dem Geburtsort des nordafrikanischen Massentourismus, hatte ich schnell Anschluss gefunden. Mit einer Gruppe junger Leute mieteten wir einen Land  Rover, um durch die Wüste Richtung libyscher Grenze zu fahren.

Irgendwann legten wir eine Pause ein, um eine Herde Dromedare vor die Linse zu bekommen. Um uns herum nichts als Wüste.  Dachten wir. Und kein Mensch weit und breit.  Dachten wir. Wir dachten falsch.

Die Chiclets-Bande war schon da.

Als wir zu unserem Land  Rover zurückkamen, hatten sich jede Menge Kinder  – fünf, zehn oder fünfzehn, ich weiß es nicht mehr  – ihren Weg ins Innere unseres gemieteten Geländewagens gebahnt. Sie durchwühlten unsere Sachen, machten auch vor dem Handschuhfach nicht halt, ließen Früchte und anderen Reiseproviant links liegen und riefen nur: „Chiclets! Chiclets!“, als sie uns sahen.

Die Kids hatten Glück. Wir hatten Kaugummi dabei. Ob es Chiclets waren, weiß ich nicht mehr. Aber sie zogen selig mit ihrer Beute davon. Die Mutter eines der Kinder kam wenig später zurück und entschuldigte sich für die aufdringlichen Kids. Sie lud uns in ihr Haus ein, gab uns zu essen. Die Tochter des Hauses führte eigens für uns einen Bauchtanz auf. Wir wurden fürstlich entlohnt für unsere Chiclets.

Aber warum gerade Chiclets? Ich habe recherchiert und bekam folgende Antworten:

Chiclets galten zu Beginn des Massentourismus als kleines Fenster in eine größere Welt. Chiclets waren über Jahrzehnte hinweg günstig, einzeln verpackt, leicht zu lagern und gut zu verkaufen.

Manche Kinder verkauften sie, um ein kleines Einkommen für sich oder ihre Familie zu generieren. Sie verkauften also die Chiclets weiter, die sie zuvor erbettelt hatten. Oft waren die Abnehmer Touristen, die um den Handelsvorteil wussten und den Kindern einen Obolus zukommen lassen wollten.

Mikrohandel mit Chiclets.

Tunesien, Anfang der 70er-Jahre: Mit dem Land Rover durch die Wüste. © Bopp (3.v.l.)


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2 Gedanken zu „Chiclets: Kleines Fenster zur Welt

  1. Lieber Hebo, das Bild erinnert mich an einen Kurztrip nach Tunesien, ebenfalls in den 70-er Jahren. Insbesondere das Bild mit der nur in der Mitte befestigten Fahrbahn weckt in mir Erinnerungen. Bei Gegenverkehr blieb stets der Fahrer mit den besseren Nerven auf dem befestigten Teil. Ich war mit vier Fussballkumpels unterwegs. Naiv, wie wir waren, wollten wir, ohne mit einer Landkarte ausgestattet zu sein, die Wüste Sahara suchen. Dabei gerieten wir immer mehr ins Atlas Gebirge. Wie wir unser Hotel in Nabeul wieder gefunden haben, ist mir heute noch ein Rätsel. Hetzel Reisen aus Stuttgart bot damals diese Kurzflugreisen zu einem Spottpreis an. Wir zahlten, so ich mich noch recht erinnere, für 4 Tage Flug, Hotel und Halbpension 158,- DM. Das waren noch Zeiten.

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