Frühmorgens am Alten Hafen

Wer ausgeschlafen (oder verrückt) genug ist, sich morgens um sechs in Montréal aus dem Bett zu schälen und mit dem Fahrrad zum Hafen zu fahren, wird reichlich belohnt. Er wird Zeuge einer Stadt am Wasser, die sich für den Tag herausputzt.

Ungeduldig und wichtig brummen die Motoren der Fähren, die Berufstätige aus den Vororten über den Sankt-Lorenz-Strom zur Arbeit bringen. Sie kommen im Kostüm oder Anzug, mit Runners oder High Heels – mit Aktenköfferchen am Handgelenk oder feinen Täschchen am Arm.

Manche schlendern mit ihren Fahrrädern über die Gangway und schieben sie die Rampe hoch. Frühsport mit Sinn und Zweck. Die Passagiere der Shuttle-Fähren erreichen für den Preis einer Busfahrkarte das Stadtzentrum – ganz ohne Auto, Ampel, Stau oder Stress.

Jetzt rollen in der diesigen Morgensonne die Trucks an, die Restaurants, Cafés, Yachten und Hafenarbeiter mit Getränken versorgen. Der Schnapswagen der SAQ hält als Erster vor dem Cirque du Soleil, der seit Wochen mit seiner neuen Show triumphiert. „Luzia“ heißt sie. Man ist begeistert. In den Pausen trifft sich die Häppchenfraktion zu Wein und Champagner – der staatliche Alkoholvertreiber liefert zuverlässig Nachschub.

Ein paar Schiffs­längen weiter westlich werden die Ausflugskähne auf Hochglanz poliert. Bald werden die Touristen aus den umliegenden Hotels in die Altstadt strömen. Sie werden Hafenrundfahrten unternehmen, die Jacques-Cartier-Brücke von unten bestaunen oder kleine Touren in die umliegenden Dörfer machen.

Aus dem schwimmenden Spa dampft es. Es dampft dort immer. Im Winter mehr als im Sommer. Frauen in Leggings und Männer in Under-Armour-Klamotten schreiten federnden Schrittes über die Rampe. Gleich gibt’s Anwendungen, Reiki, Hot Yoga, Ganzkörpermassagen und Smoothies. Montréaler mögen Fitness.

Unter der Brücke versammeln sich, wie jeden Tag, junge Menschen mit und ohne Tattoos zum Gewichtheben, Stretching und Sparringboxen am Sack.

Nebenan warten Hunderte von BIXI-Leihfahrrädern in Reih und Glied auf Kundschaft. Wetten? Die blauen werden zuerst weg sein – das sind die E-Bikes.

Für den Mann ohne festen Wohnsitz ist es noch zu früh zum Betteln. Er belässt es bei der Frage, was denn so ein Handy kostet, mit dem der Blogger seine Fotos macht – und kann sicher sein, dass der Besitzer sich nicht lumpen lässt. „Und du, wohin des Wegs“, will ich wissen? „Frühstück an der Tafel“. Bon appétit!

Bei den Foodtrucks riecht es nach abgestandenem Fett. Möwen machen sich über Churros vom Vortag her, achtlos weggeworfen. Smoked Meat gibt es erst zur Mittagszeit – wer will schon gepökeltes Fleisch zum Frühstück?

Es ist sieben Uhr. Zeit für den Blogger, den Heimweg anzutreten. Noch eine Runde schlafen – das wär’s.

Warum nicht? Jetzt ist die Stadt ja wach.

Paris s’éveille – Jacques Dutronc