
Wenn man mehr als sein halbes Leben an einem Ort verbringt, braucht es manchmal einen Augenöffner von außen, um diesen Ort wertzuschätzen. Marcel, ein befreundeter Journalist aus Köln, hat mir diesen Eye Opener jetzt frei Haus geliefert. In diesem Gastbeitrag schildert er seine Eindrücke, die er vor einigen Wochen in Kanadas beiden größten Städten Toronto und Montréal gesammelt hat:
Montréal hat auch 20 Jahre nach meinem Studienaufenthalt nichts von seinem Charme eingebüßt – im Gegenteil: Stadt und Bewohner wissen ganz genau, was sie können – und was nicht. Kein Big Business, dafür ein bunter Strauß an Festivals, extrem viele grüne Ecken, Radwege und endlose Terrassen mit hippen Cafés und Restaurants an jeder Ecke. Oft inklusiv gedacht – denn es braucht nicht zwingend viel Kohle, um am Leben teilzunehmen.
Etwas verwundert las ich auf einer lokalen Szene-Seite über das Stadt- und Nachtleben, Montréal sei so etwas wie ein „Little Berlin“ – für mich ist das Bullshit. Nicht nur, weil beide Städte mitsamt ihrer Agglomeration nahezu gleich groß sind, sondern weil Montréal in meinen Augen entspannter, weltoffener und bunter ist als das oft graue, raue und gestresste Berlin.
Montréal kombiniert auf fast perfekte Weise den europäischen Anspruch an Kultur und Lebensart mit nordamerikanischer Gelassenheit und viel Pioniergeist. Mein Gefühl: Die Stadt hat ihren Minderwertigkeitskomplex etwas abgelegt – sie muss wirtschaftlich nicht mit New York, Toronto oder Chicago mithalten, um eine Weltstadt auf Spitzenniveau zu sein.
Montréal braucht keine Fußball-WM, keine 800 Meter hohen Wolkenkratzer und keine künstlichen Shoppingmalls, um großartig zu sein – die Stadt trägt den Stolz ihrer eigenwilligen Schönheit tief in der Seele. Der Vibe saugt dich ein und lässt dich förmlich in seinem Rhythmus mitleben.
Und dann Toronto:
Schon auf dem Weg in die Stadt hat uns der andauernde Boom geflasht. Die 20 Fahrspuren auf dem Highway 401 gab’s vor einigen Jahren noch nicht – und sie sind selbst für deutsche Autobahnfahrer verdammt viele. Toronto ist noch multikultureller – auf den Nebenspuren sind viele mit Turban oder chinesischen Glücksbringern unterwegs.
Es ist dieses kanadische Mosaik, das sich hier noch deutlicher vom US-amerikanischen Melting Pot abhebt. Die Hochhausdichte in Uptown, Midtown und Downtown ist spektakulär – immer wieder versperren neue Ballungszentren die Sicht. Nur der ikonische CN Tower bleibt als verlässlicher Orientierungspunkt.
Toronto produziert Geld – viel Geld. Und das hat die Stadt über die Jahre deutlich attraktiver gemacht. Downtown, King St. West und das Distillery District bieten dutzende coole Bars, Clubs und Restaurants. Das Publikum ist noch diverser als in Montréal. Die Einstiegshürden, auch sprachlich, sind niedriger. Man ist umgeben von englischsprachigen Bankern und IT-Profis aus China, Pakistan oder Bangladesch.
Entsprechend vielfältig ist auch das gastronomische Angebot. Keine Frage: In Toronto lässt es sich hervorragend leben. Die Inseln im Lake Ontario lassen den Großstadtdschungel in wenigen Minuten vergessen.
Schon sehr schön – aber wie in der Liebe: Manchmal springt der Funke trotz vieler rationaler Argumente einfach nicht über. Dann muss man eben weiter – oder doch zurück?
Hier wie dort: Es ist das bessere Amerika.


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Es freut mich für dich und Familie, dass ihr anscheinend genau in der richtigen Stadt wohnt. Nach deinen ansprechenden seitherigen Posts und den Bildern wie auch dem Bericht deines Freundes jetzt finde ich sie auch wirklich sehr sympathisch.
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Da kommt Fernweh auf. Klingt wie eine Einladung ;-)Montreal – wir kommen!
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Da hatte ich bisher doch manchmal gedacht, du seist befangen, Herbert. Jetzt merke ich, auch ein Außenstehender kann von Montréal schwärmen. Also, wenn ich wählen müsste, dann wäre Montréal meine Favorit. Schon allein, weil sie auf die WM verzichten, die Hochhäuser, das Protzen mit Geld. Gefällt mir sehr. Danke für diesen Einblick.
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