Fahrerlos durch den Tag

Wenn Rentner reisen, gibt es was zu erzählen. Neulich erst der Trip nach Winnipeg, heute nun die Fahrt mit der nagelneuen S-Bahn: Von der Montrealer Underground City aus ging’s zuerst in den Norden, nach Deux Montagnes, und dann in den Süden, nach Brossard.

Gerne hätte ich von einer Reise berichtet, bei der wir atemlos durch die Nacht gefahren sind und dabei das Leben in vollen Zügen genossen haben. Aber das Gegenteil war der Fall: Die Reise fand am helllichten Tag statt und von vollen Zügen konnte keine Rede sein.

Lore und ich sind heute die neue S-Bahn-Strecke abgefahren, die am vergangenen Wochenende eröffnet wurde.

Wir starten also im brandneuen S-Bahnhof „McGill“ in der Stadt unter der Stadt: der Underground City. Zuerst geht es in den nördlichen Teil Montreals, zur Endstation Deux Montagnes. Von dort quer durch die City zum südlichsten Bahnhof Brossard. Alles in allem sind das etwa 75 Kilometer.

Die Strecke in den Westen von Montreal ist noch nicht in Betrieb, eine Anbindung an die Aussenbezirke des Ostens ist vorerst nicht vorgesehen. Nach der Fertigstellung wird die REM (Réseau express métropolitain) eines der größten automatisierten Netze der Welt sein.

Automatisiert heißt in diesem Fall: fahrerlos. Ich stelle mir irgendeinen überarbeiteten, unterbezahlten Tech-Nerd in einem überhitzten indischen Wohnzimmer vor, der uns per Joystick kreuz und quer durch die Fünf-Millionen-Stadt Montreal navigiert.

Die Wahrheit liegt freilich ganz woanders: In Wirklichkeit wird die Bahn von einem hochprofessionell geführten Betriebs- und Kontrollzentrum in der Montrealer Vorstadt Brossard aus gesteuert.

Die Züge selbst, die Bahnhöfe, die komplette Infrastruktur: WOW!!! Die Mischung zwischen Hightech und Design ist atemberaubend. Hell und freundlich, wohl temperiert und leise. Nur einmal wird es dunkel: Als die S-Bahn in 188 Meter Tiefe den 5000 Meter langen Tunnel durch den Mount Royal durchquert.

Dass ausgerechnet dort gleich am Tag nach der Eröffnung ein Aufzug zur Personenplattform stecken blieb, dürfte für die Dabeigewesenen auf Jahre hinaus für Gesprächsstoff am Küchentisch sorgen.

Funfact 1: In diesem Tunnel-Dickicht richtet Louise Penny in ihrem neuen Roman „The Black Wulf“ eine Folterecke der Mafia ein – ohne dabei freilich die REM zu erwähnen.

Funfact 2: Die Stationsansagen in den S-Bahn-Waggons stammen von der Tochter jener Sprecherin, die in der Montrealer U-Bahn die Ansagen macht. Angeblich erhielt die Tochter den Zuschlag, ohne dass die Jury von der familiären Verbindung wusste.

Ganz reibungslos verläuft die im Endausbau fast neun Milliarden Dollar teure Vorzeigebahn bisher nicht. Seit der Eröffnung der ersten Streckenabschnitte gab es immer mal wieder unvorhergesehene Stopps, weil die Schienen mit Eis und Schnee bedeckt sind (was in einer Winterstadt wie Montreal schon mal vorkommt). Und auch jetzt krachte schon zwei Tage nach Inbetriebnahme der kompletten Nord-Süd-Verbindung ein Truck in eine Überführung. Kinderkrankheiten eben. Bei Pannen wie diesen springen Shuttle-Busse ein.

Bisher werden 19 Stationen angefahren, im Endausbau sollen es 26 sein. Ganz zum Schluss kommt der vielleicht wichtigste Anschluss: der Flughafen in Dorval.

Bilanz nach einer Reise über drei Flüsse (Sankt-Lorenz-Strom, Rivière des Prairies, Rivière des Mille Îles) und 5 Kilometer durch einen Berg: beeindruckend, modern, blitzsauber, Wifi-fähig, behindertenfreundlich, abwechslungsreich und mit 7 Dollar pro Person preisgünstig.

Einziger Nachteil: Für die S-Bahn-Premiere haben wir uns den nebligsten Tag seit Langem ausgesucht. Entsprechend trüb sind die Fotos.


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3 Gedanken zu „Fahrerlos durch den Tag

  1. Na, das klingt alles echt fortschrittlich und modern! Hoffentlich beeilen die sich nun aber auch mit dem Anschluss der Bahn an den Flugplatz! Vielleicht als Weihnachtsgeschenk für die „Snowbirds“❓
    LG – R🌴

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  2. Interessant, wobei ich bei allen „automatisierten“ Dingen immer auch drandenken muss, wieviele Menschen dadurch wieder arbeitslos geworden sind.

    Ferner finde ich als kleinen Nebeneffekt diese gelben Haltestangen interessant. Die gleiche Art waren uns schon im Zug auf Mallorca aufgefallen. Die bieten vielen Händen Haltemöglichkeiten, egal ob kleinen oder großen Menschen, ohne selbst viel Platz zu beanspruchen. Das finde ich viel sinnvoller als hier in deutschen Bahnen.

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  3. Eine interessante Kurzreise – danke fürs virtuelle Mitnehmen. Ich wünsche der Montrealer S-Bahn ungezählte unbeschwerte Fahrten – möge sie auf keinem Fall das Schicksal der Münchner S-Bahn ereilen: Zu viele Pannen, zu viele Zugausfälle, zu viele Verspätungen…
    Und du hast mich jetzt noch neugieriger auf den 20. Band der Krimiserie von Louise Penny gemacht, als ich ohnehin schon bin. ;-)

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