Szenen aus dem „Café Indigo“

Der Barista in meinem Lieblingscafé heißt Antoine und zaubert ein Schaumherz in den Latte, als gelte es, einen Malwettbewerb zu gewinnen. Wenn nicht viel los ist im Café, kommt Antoine hinter seiner Theke hervor und bringt mir den Latte an meinen Stammplatz: eine mit schwarzem Kunstleder überzogene Sitzbank, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Die abgewetzte Bank ist perfekt. Sie steht in einer Ecke, von wo aus ich, fast unbemerkt von den anderen Gästen, das komplette Geschehen im Auge habe.

Die alte Dame, die mit gespreizten Fingern ein Buch zum Probelesen aus dem Regal nimmt und es wenig später angewidert wieder zurückschiebt. Wusste sie nicht, dass sie in der „Horror“-Sektion gelandet ist?

Der korpulente Mann mit Hut, der sich genüsslich gegen das Regal lehnt und in einem Hochglanzbuch mit dem Titel Italian Cooking Paradise blättert. Keine Frage: Monsieur wusste, worauf er sich da einlässt.

Kindergeschrei! Gehören Kinder um diese Zeit eigentlich nicht längst ins Bett oder zumindest in den Kindergarten? Papa ist anderer Meinung. Mit dem Stolz des Eiskunstlaufvaters erzählt er jedem, der es nicht wissen will, dass sein Fünfjähriger schon alle Buchtitel lesen kann. Gratuliere, Einstein!

Meistens nehme ich zum Latte eine Brioche. Auch die serviert mir Antoine. Ich weiß seinen Service zu schätzen. Antoine bedient nicht alle Gäste persönlich. Er sieht meinen Rollator.

Das Herz des „Café Indigo“ ist ein Halbrund, das Café und Buchladen miteinander verbindet. Dort steht ein Konzertflügel. Kein Steinway oder Bechstein, aber ein solides Möbelstück, das ordentliche Töne von sich gibt. Jeder darf darauf spielen. Wer sich im Leben ein bisschen mit Musik beschäftigt hat, merkt schnell: Nicht jeder, der sich für einen Konzertpianisten hält, taugt zur nachmittäglichen Unterhaltung in einem gut besuchten Buchladen.

Ein Mann um die 70 spielt mit Hingabe ein Medley nach dem anderen. Von Leonard Cohen über Elvis, von Sting bis Mozart – der Mensch kann was. Ein Teenager lauert derweil in Wartestellung direkt neben dem Flügel. Das Mädchen brennt regelrecht darauf, den Mann am Klavier ablösen zu können. Doch der Alte denkt nicht ans Aufhören und spielt selbstverliebt weiter, als sei er der festangestellte Barpianist des „Café Indigo“.

Teenager haben wenig Zeit, da draußen tobt das Leben. Also fasst sich das Mädchen ein Herz, geht auf den Mann am Klavier zu und flüstert ihm etwas ins Ohr. Freundlich, höflich, mit einem Lächeln im Gesicht. Der Pianist versteht. Ohne Groll räumt er seinen Platz, von dem aus er eben noch herrliche Töne gezaubert hat, und überlässt das Feld großzügig der jungen Frau.

Die muss irgendwann in ihrem jungen Leben für sehr kurze Zeit Klavierunterricht genommen haben. „Für Elise“ klingt ein bisschen wie Poppy, wenn sie zum Pipi-Machen vor die Tür will. Aber es kommt noch besser. „The Entertainer“ hört sich an, als hätte sie jeden zweiten Akkord vergessen. Als sie dann zu „Greensleeves“ ansetzt, hat Antoine Erbarmen mit dem Publikum.

Er kommt hinterm Tresen hervor  und fragt, ob es ihr etwas ausmache, den älteren Herrn wieder ans Klavier zu lassen. Der stand die ganze Zeit über fassungslos über so viel Chuzpe eines Teenagers daneben. Das Mädchen, fröhlich und unbeschwert, wie es gekommen war, verlässt den Tatort. Jetzt ist der alte Herr wieder der Mann am Klavier.

Im Laufe der Jahre habe ich an diesem Konzertflügel schon Dutzende von Menschen erlebt. Manche wären lieber zu Hause geblieben und hätten die Melodica ihres Kleinkinds traktiert, als andere Menschen mit ihrem Spiel zu belästigen. Viele klingen richtig gut, vermutlich Musikstudenten, die in der Mittagspause aus dem nahegelegenen Konservatorium der McGill University zum Üben kommen.

Und dann ist da ein Mann, den ich häufiger gehört habe als jeden anderen. Er schafft es, Noten mit Gefühl zu füllen, Töne zum Sprechen zu bringen. Sanft streichelt er die Tasten dieses Flügels, als gelte es, den Chefdirigenten des nahegelegenen Konzerthauses von seiner Virtuosität zu überzeugen. Er macht das mit einer entwaffnenden Bescheidenheit. Mozart, Beethoven, Bach, aber auch Oscar Peterson, Ray Charles, Chick Corea. Das ganze Programm ohne Noten.

Dabei bleibt der Mann zurückhaltend, fast scheu, wagt nur ab und zu einen kurzen Blick in die Runde. Manche setzen für einen Moment die Kaffeetasse ab, hören ihm gebannt zu. So wie keinem anderen im „Café Indigo“.

Dann erhebt sich der Mann, um die 50, und verabschiedet sich mit einer streichelartigen Bewegung von dem Klavier, das er mit seiner Anwesenheit beehrt hat. Er packt hastig seine Siebensachen zusammen, die er unter den Flügel gelegt hatte, schnallt einen abgetragenen Tornister auf den Rücken und nimmt einen Schlafsack unter den Arm, der offensichtlich schon sehr viel Bodenkontakt hatte.

Antoine sagt, es sei ein Wohnsitzloser. Einer, der wortlos aus der Kälte kommt und die Menschen im warmen Café verzaubert, ehe er zurückgeht auf die harten Straßen der Millionenstadt. Er will kein Geld, hat keinen Hut vor sich liegen, hascht nicht nach Applaus. Ihm geht es offenkundig um das, was ihm noch geblieben ist: seine Musik.

Man ist gerührt und fragt sich, wo und wann dieser Mensch im Leben falsch abgebogen ist.

MUSIK FÜR ALLE: Eine Pianistin im „Café Indigo“