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Ich bin 1949 in Ummendorf geboren, in der Tiefe Oberschwabens. Ich könnte nicht behaupten, dass hier die Post abging. Eine tolle Kindheit hatte ich trotzdem. Hier poste ich ab und zu Erinnerungen an meine Bengel-Zeit.
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Frieda Gantner, oder „Fräulein Gantner“, wie sie bei uns hieß, war eine überaus freundliche Dame, vermutlich viel jünger als ich sie heute in Erinnerung habe. Ich schätzte damals, sie dürfte um die 70 gewesen sein, als ich ihr zum ersten Mal begegnet bin. Also war sie in Wirklichkeit vermutlich 50 oder 45.
Sie war klein und knochig, trug eine Hornbrille und hatte eine zarte, piepsige Stimme, die zu einem Vögelchen eher passen würde als zu einem Mensch. Fräulein Gantner zeichneten zwei Dinge aus, die mir ein Leben lang in Erinnerung geblieben sind: Ihre rosa Lockenwickler und ihr Wohnsitz Amerika. Wobei das eine mit dem anderen sicherlich eng zusammen hängt.
Wann Fräulein Frieda Gantner von Ummendorf nach Connecticut ausgewandert ist, kann ich nicht sagen. Jedenfalls war sie eine der wenigen, die es wagten, unserem Dorf tschüss zu sagen. Das allein schon fand ich großartig, mutig und unglaublich revolutionär. Cool, würde man heute vermutlich sagen.
So sehr prägte mich die Abwesenheit dieser Frau, deren Anwesenheit ich nur selten erlebt hatte, dass sie bei uns zuhause zum geflügelten Wort wurde. Etwa: „Das würde das Fräulein Gantner bestimmt total anders sehen.“ Oder auch: „Fräulein Gantner wusste schon, warum sie dieses Kaff verlassen hat.“
Alle zwei Jahre kam Frieda Gantner in „dieses Kaff“ zurück. Meistens richtete sie ihre Rückkehr so ein, dass sie rechtzeitig zum Schützenfest in der Kreisstadt Biberach eintraf. Dass um Auslands-Biberacher immer großes Kino gemacht wurde, ärgerte viele der Daheimgebliebenen, weil ausgerechnet die, die Jahre zuvor ihrem Kaff den Rücken gekehrt hatten, jetzt gefeiert wurden wie Rockstars.
Ich gönnte den ausgewanderten Schützenfest-Rückkehrern ihren Startstatus von Herzen. Am liebsten wäre ich ja auch einer von ihnen gewesen. Während die Herrschaften aus Brasilien, Kanada und Australien den Schützenfestumzug von der Tribüne aus beklatschen durften, wo ihnen auch noch Polster unter den Hintern geschoben wurden, musste unsereins die zweieinhalbstündige Parade im Stehen aushalten. Damit auch jeder sehen konnte, wie privilegiert diese Luxusreisenden sind, heftete ihnen der Oberbürgermeister höchstpersönlich eine Schützenrose an Bluse oder Revers. Dazu händigte er ihnen ein Schützenabzeichen aus, für das Normalsterbliche einsfünfzig bezahlen mussten.
Dies alles fand ich zwar in höchstem Maße unfair, hielt mich aber zurück, weil ich den Emigrantenstatus der Auslands-Biberacher nicht einmal gedanklich schmälern wollte. Schließlich hatten die etwas geschafft, wovon ich nur träumen konnte. Sie lebten in Caracas und ich in Ummendorf. Oder, wie Fräulein Gantner, in Connecticut.
Frieda Gantner traf regelmäßig eine Woche vor dem Schützenfest in Ummendorf ein. Und schon lange vor ihrer Ankunft machte sich bei mir Feststimmung breit, wobei mich vor allem die Frage der diesjährigen Geschenke interessierte. Dabei wusste ich über diese Frau so gut wie gar nichts. Meine Eltern waren da auch keine große Hilfe. Es hieß, sie sei kurz nach dem Krieg mit einem Soldaten nach Amerika ausgewandert, der sie dann aber schon bald wieder verlassen habe.
In meinem Kinderkopf war Fräulein Gantner jedenfalls reich und auch ein bisschen berühmt. Schließlich wussten die meisten Ummendorfer schon Wochen vorher, dass sie wieder im Anmarsch war. Bei weniger als 800 Einwohnern ist das auch kein Wunder.
Unter meinen Schulkameraden war ich derjenige, der den größten Informationsvorsprung hatte, denn Fräulein Gantner stieg nur wenige Häuser von meinem Elternhaus ab. Dort, wo noch immer ihre alte Mutter lebte, sei Frieda auch aufgewachsen, hieß es. Dieses im Grunde genommen bescheidene Einfamilienhäuschen unterschied sich von allen anderen Häusern in der Straße durch einen doppelten Treppenaufgang, also zwei Steintreppen, die sich oben an einer kleinen Plattform trafen.
Dieser Auf- und Abstieg verlieh dem Haus in meinen Augen eine Art Villencharakter, was allerdings andere Bewohner unserer Straße sicher nicht so gelten lassen würden. Eine Villa gab es nämlich nicht in meiner Gemeinde. Wo kämen wir denn da hin, schließlich leben wir in einem anständigen Arbeiter-, Handwerker- und Bauerndorf.
Dass sich Fräulein Gantner bereits am Tag ihrer Ankunft – und auch danach – mit Sonnenbrille und Zigarette rauchend gerne auf der steinernen Plattform über dem Treppenaufgang positionierte und sich für oberschwäbische Verhältnisse etwas zu relaxed auf dem eisernen Geländer abstützte, gefiel vielen Ummendorfern gar nicht. Herr Manhold, unser Nachbar zur Linken, der als Käsermeister im Milchwerk arbeitete und auch nach Feierabend stets einen blütenweißen Mantel trug, meinte einmal: „Die Dame hält gerne Hof“. Und im Gemeindeblättle war zu lesen: „Das aus Connecticut angereiste Fräulein Gantner domiziliert derzeit wieder im Hause ihrer Mutter“. Den Willkommensgruß hatte der Verwaltungsaktuar Raiber fürs Blättle verfasst. Nur ihm konnte so ein feines Wort wie „domiziliert“ einfallen.
Höhepunkt ihres meist vierwöchigen Deutschlandaufenthalts war ein Gartenfest, zu dem sämtliche Kinder unserer Straße eingeladen waren, also genau sechs. Bunte Girlanden zierten schon früh am Morgen die Thujahecken. Im Laufe des Vormittags schmückten kleine Windräder aus Plastik die Blumenbeete. Gegen Mittag stand ein gedeckter Tisch auf dem Rasen. Das Fest selbst begann pünktlich um 15 Uhr. Wer vorher kam, galt als unhöflich, was in Ummendorf allerdings nicht weiter auffiel.
Natürlich hielt das Fräulein Gantner auch am Festtag auf der Steintreppe Hof. Jedes Kind wurde zunächst mit einer Art Ritterschlag begrüßt, der sich dann zu einer kurzen Wange-an-Wange-Berührung steigerte, was mir ehrlich gesagt etwas peinlich war. Aber bitte, wenn die Amerikaner das so machen. Wir Ummendorfer kannten eigentlich nur den Handschlag.
Zum Kakao gab es Amerikaner und wer mochte, konnte sich an Flaschenlimonade der Marke „Canada Dry“ bedienen. Für jedes Kind lag ein bunter PEZ-Spender auf dem Tisch, den die Gastgeberin aus Amerika mitgebracht hatte. Außerdem gab es jede Menge Kaugummi und Geschenke aus Plastik oder Balsaholz.
„Amerikaner“ hatte ich schon oft beim Bäcker Kaiser in der Vitrine gesehen. Sie hatten entweder einen weißen, oder aber einen schwarzen Zuckerguss. Plastik kannte ich auch, Balsaholz noch nicht. Balsaflugzeuge waren überaus leicht und daher sehr zerbrechlich. Dass mein Balsabomber beim ersten Flugversuch gleich eine Bruchlandung hinlegte, quittierte das sonst so freundliche Fräulein Gantner ganz unamerikanisch mit einem strengen Blick, gab dabei aber gleichzeitig ein versöhnliches „es ist okay“ von sich.
Bei Fräulein Gantner war überhaupt alles „okay“. Und genau das liebte ich so an ihr. „Okay“ gehörte in meiner Familie nicht zum Sprachgebrauch. Bei uns war alles saugut oder sauschlecht. Grauwerte gingen im Haus des Malermeisters unter.
Das Fest, die Geschenke, die Steintreppe, das „Okay“ – das alles bestärkte mich in meinem grenzenlosen Respekt für diese Weltbürgerin. Und wer weiß, vielleicht hatte dieses liebenswerte Geschöpf namens Frieda Gantner sogar viele Jahre später etwas mit meiner eigenen Auswanderung nach Kanada zu tun.
Dass Fräulein Gantner in Amerika nicht in Saus und Braus lebte, wie die meisten von uns dachten, sondern, wie ich erst viel später erfuhr, als Brotverkäuferin in einer deutschen Bäckerei arbeitete, veränderte mein Bild von ihr nicht im geringsten.
Für mich war Frieda Gantner die Powerfrau von der Freiheitsstatute, die einen Hauch von Peter Stuyvesant, Coca Cola und Wrigleys nach Ummendorf brachte. Eben den Duft der großen, weiten Welt.