Santiago, wir kommen!

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JAKOBSWEG, Tag 40 – 20 Kilometer von Arzúa nach O Pedrouzo.

FÜR ERWIN

Wir widmen jeden Tag unserer Pilgerreise einem Menschen, der uns viel bedeutet hat, aber nicht mehr unter uns weilt.


Wie fühlt man sich so, wenn das Ziel, von dem man – wie in Lores Fall – ein Erwachsenen-Leben lang geträumt hat, in weniger als 20 Kilometer Entfernung vor einem liegt?

Unsere Gedanken schwirren in diesem Moment ziemlich unsortiert in unseren Köpfen herum. „Ich weiß nur“, sagt Lore, „dass es viel schöner war, als ich es mir vorgestellt hatte“. Zu einer tieferen Analyse fühle sie sich momentan außerstande.

Damit bestätigt sie das, was uns Robert aus Coburg vorhin erklärte. „Die volle Wucht des Camino-Effekts trifft dich erst, wenn du wieder daheim bist, in deinem eigenen Umfeld.“

Hier auf dem Camino liebe jeder jeden. Nach der Rückkehr ins richtige Leben erkenne man bald, dass sich dieses Lovefest nicht im Alltag aufrecht erhalten lassen könne  

Robert, Mitte 50, muss es wissen. Für ihn ist es schon der dritte Camino. Er ist heute in der Hitze Galiciens für einige Stunden mit uns gewandert. Jede seiner Pilgerwanderungen habe Spuren hinterlassen. Und jedesmal ganz unterschiedliche.

Zu einer tiefenpsychologischen Analyse bin auch ich nicht in der Lage, während ich an diesem Montagabend den zweitletzten Camino-Blog in einer sehr modernen Herberge am Stadtrand von O Pedrouzo ins Handy tippe.

Fest steht für mich schon jetzt: Es ist eine der wichtigsten Erfahrungen, die ich in meinen 70 Jahren machen durfte. Abenteuer habe ich vor allem in meinem Reporterleben genug erlebt. Aber die Erfahrungen, die man in sechs Wochen auf dem Camino macht, sind mit nichts zu vergleichen.

Die größte Erfahrung ist vielleicht die, dass man seinem Körper viel, sehr viel zumuten kann. Mehr als man je für möglich gehalten hätte.

Grenzen ausloten, auch physische, ist eine der vielen Erkenntnisse, die ich schon jetzt von dieser Reise mit nach Hause nehmen werde.

Aber auch der Kopf wurde während der vergangenen sechs Wochen einem intensiven Training ausgesetzt.

Jeden Tag neue Menschen aus allen Ecken der Welt kennenlernen und sich auf Sprachen und Kulturen einstellen, die man bislang nur aus dem Fernsehen kannte.

42 Nächte hintereinander nie zweimal hintereinander im selben Bett schlafen.

Am Morgen nicht zu wissen, wo du die Nacht verbringen wirst und wo du welche Mahlzeiten zu Dir nimmst und was dich am nächsten Tag erwartet.

Das alles konditioniert Körper, Kopf und Magen in einem Maße, wie du es bisher nicht gekannt hast.

Für mich ist es der ultimative Survivaltest, dem man sich zwar nicht zwingend unterziehen muss, um glücklich älter zu werden. Aber hilfreich ist so ein Realitycheck allemal.

Ich musste während dieser Reise ganz oft an Hape Kerkeling denken, der ja bekanntlich Millionen Menschen für den Jakobsweg sensibilisiert hat. (Wir gehören übrigens nicht dazu. Lores Camino-Pläne gehen auf eine Zeit zurück, da war Kerkeling noch lange nicht weg).

Meine KerkelingMomente sind anders geartet. Sie haben etwas mit Bequemlichkeit zu tun.

Eine Journalistin, die Hape Kerkeling zum Interview traf, schlug vor, man könne das Gespräch ja während eines Spaziergangs machen. Schließlich laufe er ja gerne.

Kerkeling lehnte den Spaziergang entrüstet ab. Er laufe überhaupt nicht gerne, erklärte er der Journalistin. Aber er pilgere gerne.

Ich kann den kleinen Unterschied sehr gut nachvollziehen. 20 Kilometer am Tag auf dem Camino? Kein Problem. Aber vom Hostel aus anschließend noch 100 Meter bis zum Supermarkt laufen, das nervt.

Die mentalen Vorbereitungen für unseren letzten Camino-Tag laufen. Wir haben inzwischen von allen möglichen Menschen so viele Aufträge erhalten, nach der Ankunft in Santiago Kerzen für sie oder ihre Lieben anzuzünden, dass ich mir hätte Aktien in einer Wachsfabrik kaufen sollen.

Aber natürlich werden wir den Wünschen nachkommen. Nur mehr sollten es jetzt nicht mehr werden.

So schicken wir an diesem etwas melancholischen Abend zündende Grüße in die weite Internet-Welt hinaus und wünschen:

Buen Camino aus O Pedrouzo!

10 Gedanken zu „Santiago, wir kommen!

  1. Ich kann mich meinem Vor-Kommentator nur anschließen, denn mir ging es ähnlich. Danke vielmals für die Eindrücke vom Weg, die in mir wieder die Sehnsucht wachgerufen haben. Buen Camino für den heutigen Tag. Und ein gesegnetes Ankommen.

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  2. Vielen Dank, dass wir Euch so „lebensnah“ begleiten durften! Nach Eurer Ankunft in Santiago wird mir der tägliche Blog sehr fehlen. Er ist den vergangenen Wochen meine Abendlektüre geworden. So, wie man jeden Morgen seine Tageszeitung erwartet, so habe ich jeden Abend vor dem Computer gewartet, bis es endlich so weit war und der „Camino-Chronicle“ erschienen ist. Und jetzt nur noch einmal? Ich kanns kaum glauben. Und ja, ich kann mitfühlen: Den Unterschied zwischen pilgern und laufen. Es mag arrogant klingen, aber Du hast es so plastisch beschrieben, dass es sogar ein zu Hause Gebliebener mitfühlen konnte. Und hoffentlich gibt’s die Bopp’schen Erlebnisse bald in gebündelter Form. In einem Buch? Mit unvergesslichen Fotos und Geschichten? Ich bitte darum, im Namen aller Blog-Fans!
    Jetzt noch einmal ein Buen Camino für Euch!

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  3. Ihr Lieben, danke wie immer für den Bericht und die Gedanken. Eigentlich wollte ich auch noch einen Kerzenauftrag bei Euch loswerden für Lolo, meine Großtante, der Namensgeberin meiner Tochter. Lolo feiert morgen irgendwo ihren 119. Geburtstag und hat mich vieles gelehrt, so auch, wie frau mit Schmerzen würdevoll umgeht.
    Ihr habt genug zu tun mit Euch und der Ausführung vieler Aufträge. Wir machen es daher anders: Ich zünde morgen ohnehin jährlich eine Kerze für eine gute Frau an. Ich werde eine zweite in Dankbarkeit für Eure Freundschaft aufstellen, die sich dann als Schein in der Atmosphäre mit Eurer treffen mag, die Ihr für Euch aufstellt.
    Buen Camino, der von nun an Teil Eures Lebensweges sein wird. Herzlichen Glückwunsch!

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  4. (Nicht nur) Mir werden die abendlichen Eindrücke fehlen. Sowohl die Texte, als auch die sorgfältig ausgewählten Bilder. Beides zusammen immer sehr viel mehr als ein (schn)öder Reisebericht, der etwa nur akribisch tägliche Stationen auflistet.

    Vielen Dank dafür und Euch ein fulminantes (oder still-nachwirkendes) Finale morgen und danach wünscht herzlich,
    Prensal

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  5. Thanks so much, Jennifer. Can’t wait to see you and Phil for dinner in one of Montreal’s beautiful terrace cafés to talk more. 🥾🥾👍

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  6. Dear pilgrims, Continue to savor every moment, as you have been all along each day of this incredible experience. The Camino may end physically, but I know the memories in your heart & mind will linger forever, especially in how the Way of St. James has impacted you both personally. Have a wonderful evening & a fabulous hike tomorrow! It could not be orherwise.🍷💕

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  7. Hape Kerkeling und Tim Moore schrieben unterhaltsam, Shirley MacLaine ist mir zu esoterisch. Inspirierend war für mich keine der Lektüren. Im vergangenen Jahr bin ich die erste Etappe von Saint-Jean-Pied-De-Port bis nach Roncesvalles gegangen und glaubte, eine gewisse Spiritualität gespürt zu habe. Das war der entscheidende Impuls, in diesem Jahr weiterzumachen. Ich wünsche euch ein sonniges Finale.

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  8. Hallo Herbert,

    wieder mal ein super Blog. Genau so erging es mir auch am vorletzten Abend. Ziemlich melancholisch und unsortiert wie Du schreibst.
    Wusste wirklich nicht, ob ich mich freuen soll. Eher überwiegte die Enttäuschung, dass am nächsten Tag alles vorbei ist.

    Buen camino, Carlo

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  9. Ich freue mich , dass die Sonne Euch auf den allerletzten Kilometern des Camino begleitet und wünsche Euch, dass Ihr die Ankunft am Ziel mit allen Sinnen genießen könnt. Ich bin gespannt, wie Ihr danach wieder „runterkommt“, bzw. wie es Euch gelingt, Euch wieder im Alltag einzupendeln. Aber morgen ist erst mal der große Tag!

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