Das Leben feiern, wie es ist

Liebe Leserinnen und Leser der BLOGHAUSGESCHICHTEN,

ehe der Baum brennt und die Welt noch vollends in Flammen steht, gestatten Sie mir bitte ein paar Last-Minute-Gedanken über das Glück, Ihnen diesen Blog nun schon seit fast 15 Jahren frei Haus liefern zu dürfen. Ich empfinde es als ein Geschenk, dass Tausende von Ihnen mir noch immer die Treue halten.

Mir ist klar, dass es wichtigere Dinge in Ihrem Leben gibt als meine Radtouren und Streifzüge durch Montréaler Cafés, meine Begegnungen mit Menschen und meine Befindlichkeiten, wenn es mal wieder zwickt und zwackt. Aber es ist mir immer wieder eine Freude, diese kleinen Abenteuer mit Ihnen zu teilen.

Zunächst war dieser Blog als eine Art digitales Tagebuch für mich selbst gedacht: Aufschreiben, was ist. Dann wurde ein Ein-Mann-Stammtisch daraus, von dem aus ich ungeniert meine Lust am Diskurs ausleben konnte.

Irgendwann sind die BLOGHAUSGESCHICHTEN zu dem geworden, was sie heute sind: eine Plattform für alle, die an meinem kleinen Leben in Montréal und anderswo teilhaben möchten – an den Freuden des Alltags und am Leid der Welt, an all den kleinen und nicht so kleinen Dingen, die das richtige Leben ausmachen.

Was wünscht man Menschen wie Ihnen, die vermutlich schon das meiste haben, was sie sich schon immer gewünscht haben? Noch mehr Freude, noch mehr Lebensqualität, mehr Glück, vielleicht sogar noch mehr Geld?

All das zählt wenig, wenn das Wichtigste von allem nicht stimmt: die Gesundheit. Deshalb mein Wunsch zu Weihnachten: Bleiben Sie achtsam – und bleiben Sie gesund. Ihr Körper verzeiht Ihnen vieles, aber nicht alles. Es könnte sein, dass irgendwann die dicke Rechnung kommt. Die macht man dann möglicherweise ohne den Wirt.

Der Hexenkessel da draußen gibt immer wütendere Töne von sich. Das ist schlimm und auch gefährlich. Zum Glück gibt es aber auch Gutes, Schönes, Wertvolles, Anständiges, das wir feiern sollten: den Obsthändler am Bondi Beach zum Beispiel, der mehr Zivilcourage gezeigt hat als die meisten Politiker, die ich in ihrem Alltag erlebe.

An solchen Menschen, Gesten und Momenten lohnt es sich festzuhalten, wenn es mal wieder so aussieht, als würden wir alle zur Hölle fahren.

Ihnen und den Menschen, die Ihnen lieb und wichtig sind, ein fröhliches Fest und schon jetzt einen geschmeidigen Rutsch ins neue Jahr!

Bleiben Sie mir gewogen!

Ihr Herbert Bopp

Szenen aus dem „Café Indigo“

Der Barista in meinem Lieblingscafé heißt Antoine und zaubert ein Schaumherz in den Latte, als gelte es, einen Malwettbewerb zu gewinnen. Wenn nicht viel los ist im Café, kommt Antoine hinter seiner Theke hervor und bringt mir den Latte an meinen Stammplatz: eine mit schwarzem Kunstleder überzogene Sitzbank, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Die abgewetzte Bank ist perfekt. Sie steht in einer Ecke, von wo aus ich, fast unbemerkt von den anderen Gästen, das komplette Geschehen im Auge habe.

Die alte Dame, die mit gespreizten Fingern ein Buch zum Probelesen aus dem Regal nimmt und es wenig später angewidert wieder zurückschiebt. Wusste sie nicht, dass sie in der „Horror“-Sektion gelandet ist?

Der korpulente Mann mit Hut, der sich genüsslich gegen das Regal lehnt und in einem Hochglanzbuch mit dem Titel Italian Cooking Paradise blättert. Keine Frage: Monsieur wusste, worauf er sich da einlässt.

Kindergeschrei! Gehören Kinder um diese Zeit eigentlich nicht längst ins Bett oder zumindest in den Kindergarten? Papa ist anderer Meinung. Mit dem Stolz des Eiskunstlaufvaters erzählt er jedem, der es nicht wissen will, dass sein Fünfjähriger schon alle Buchtitel lesen kann. Gratuliere, Einstein!

Meistens nehme ich zum Latte eine Brioche. Auch die serviert mir Antoine. Ich weiß seinen Service zu schätzen. Antoine bedient nicht alle Gäste persönlich. Er sieht meinen Rollator.

Das Herz des „Café Indigo“ ist ein Halbrund, das Café und Buchladen miteinander verbindet. Dort steht ein Konzertflügel. Kein Steinway oder Bechstein, aber ein solides Möbelstück, das ordentliche Töne von sich gibt. Jeder darf darauf spielen. Wer sich im Leben ein bisschen mit Musik beschäftigt hat, merkt schnell: Nicht jeder, der sich für einen Konzertpianisten hält, taugt zur nachmittäglichen Unterhaltung in einem gut besuchten Buchladen.

Ein Mann um die 70 spielt mit Hingabe ein Medley nach dem anderen. Von Leonard Cohen über Elvis, von Sting bis Mozart – der Mensch kann was. Ein Teenager lauert derweil in Wartestellung direkt neben dem Flügel. Das Mädchen brennt regelrecht darauf, den Mann am Klavier ablösen zu können. Doch der Alte denkt nicht ans Aufhören und spielt selbstverliebt weiter, als sei er der festangestellte Barpianist des „Café Indigo“.

Teenager haben wenig Zeit, da draußen tobt das Leben. Also fasst sich das Mädchen ein Herz, geht auf den Mann am Klavier zu und flüstert ihm etwas ins Ohr. Freundlich, höflich, mit einem Lächeln im Gesicht. Der Pianist versteht. Ohne Groll räumt er seinen Platz, von dem aus er eben noch herrliche Töne gezaubert hat, und überlässt das Feld großzügig der jungen Frau.

Die muss irgendwann in ihrem jungen Leben für sehr kurze Zeit Klavierunterricht genommen haben. „Für Elise“ klingt ein bisschen wie Poppy, wenn sie zum Pipi-Machen vor die Tür will. Aber es kommt noch besser. „The Entertainer“ hört sich an, als hätte sie jeden zweiten Akkord vergessen. Als sie dann zu „Greensleeves“ ansetzt, hat Antoine Erbarmen mit dem Publikum.

Er kommt hinterm Tresen hervor  und fragt, ob es ihr etwas ausmache, den älteren Herrn wieder ans Klavier zu lassen. Der stand die ganze Zeit über fassungslos über so viel Chuzpe eines Teenagers daneben. Das Mädchen, fröhlich und unbeschwert, wie es gekommen war, verlässt den Tatort. Jetzt ist der alte Herr wieder der Mann am Klavier.

Im Laufe der Jahre habe ich an diesem Konzertflügel schon Dutzende von Menschen erlebt. Manche wären lieber zu Hause geblieben und hätten die Melodica ihres Kleinkinds traktiert, als andere Menschen mit ihrem Spiel zu belästigen. Viele klingen richtig gut, vermutlich Musikstudenten, die in der Mittagspause aus dem nahegelegenen Konservatorium der McGill University zum Üben kommen.

Und dann ist da ein Mann, den ich häufiger gehört habe als jeden anderen. Er schafft es, Noten mit Gefühl zu füllen, Töne zum Sprechen zu bringen. Sanft streichelt er die Tasten dieses Flügels, als gelte es, den Chefdirigenten des nahegelegenen Konzerthauses von seiner Virtuosität zu überzeugen. Er macht das mit einer entwaffnenden Bescheidenheit. Mozart, Beethoven, Bach, aber auch Oscar Peterson, Ray Charles, Chick Corea. Das ganze Programm ohne Noten.

Dabei bleibt der Mann zurückhaltend, fast scheu, wagt nur ab und zu einen kurzen Blick in die Runde. Manche setzen für einen Moment die Kaffeetasse ab, hören ihm gebannt zu. So wie keinem anderen im „Café Indigo“.

Dann erhebt sich der Mann, um die 50, und verabschiedet sich mit einer streichelartigen Bewegung von dem Klavier, das er mit seiner Anwesenheit beehrt hat. Er packt hastig seine Siebensachen zusammen, die er unter den Flügel gelegt hatte, schnallt einen abgetragenen Tornister auf den Rücken und nimmt einen Schlafsack unter den Arm, der offensichtlich schon sehr viel Bodenkontakt hatte.

Antoine sagt, es sei ein Wohnsitzloser. Einer, der wortlos aus der Kälte kommt und die Menschen im warmen Café verzaubert, ehe er zurückgeht auf die harten Straßen der Millionenstadt. Er will kein Geld, hat keinen Hut vor sich liegen, hascht nicht nach Applaus. Ihm geht es offenkundig um das, was ihm noch geblieben ist: seine Musik.

Man ist gerührt und fragt sich, wo und wann dieser Mensch im Leben falsch abgebogen ist.

MUSIK FÜR ALLE: Eine Pianistin im „Café Indigo“

Beat: Neues Leben in Belize

Dschungel statt Schweizer Berge, Palmenwald statt kanadischer Busch: Beat Korner erlebt das Kontrastprogramm pur. Der gelernte Werbegrafiker aus Zug hat lange im Yukon gelebt und ist gerade dabei, sich im zentralamerikanischen Belize eine neue Existenz aufzubauen – als über Siebzigjähriger.

Begegnet sind wir uns vor 22 Jahren im Yukon. Ich war damals im kanadischen Norden unterwegs, um für die ARD-Sender über Land und Leute zu berichten. Beat und seine damalige Frau Jacqueline gehörten auch dazu. Beats weiteren Lebensweg konnte ich bis heute mitverfolgen, den seiner Frau leider nicht. Sie ist während eines Aufenthalts auf Hawaii plötzlich aus dem Leben gerissen worden – mit gerade mal 43 Jahren.

Beat und Jacqueline betrieben damals in der Gegend von Whitehorse die Tagish Wilderness Lodge – ein rustikales Anwesen, 20 Kilometer von der nächsten Straße entfernt. Wer die beiden in ihrem Schmuckstück aus Holz und Natur besuchen wollte, musste entweder 16 km mit dem Boot über den Tagish Lake fahren oder sich im Wasserflugzeug absetzen lassen.

Die Wilderness Lodge bestand aus einem Haupthaus und einer Ansammlung von schnuckeligen Blockhütten, die Beat und seine Frau zusammen gebaut hatten. Von einem Hügel aus konnte man die Wildnis in Augenschein nehmen, die es den beiden angetan hatte – und nicht nur ihnen: Überwiegend europäische Touristen ließen sich die Erfahrung etwas kosten, mit Beat und Jacqueline die fast unberührte Natur zu erkunden.

Ausflüge auf dem Hundeschlitten, gezogen von den Huskies der Wilderness Lodge, gehörten zum Programm. Beat kennt sich mit Schlittenhunden aus: Als einer von wenigen Europäern hat er das längste und härteste Hundeschlittenrennen der Welt absolviert, das Yukon Quest: Mehr als 1500 Kilometer durch den Yukon und Alaska, das Ganze bei extremen Minus-Temperaturen.

Jacquelines plötzlicher Tod während eines Erholungsurlaubs auf Hawaii brachte das Abenteuer Wilderness Lodge zu einem jähen Ende. Das Anwesen wurde verkauft, Beat zog in den Süden Kanadas, zuerst nach Penticton, dann nach Okanagan Falls, beides in British Columbia. Beat, der gelernte Werbegrafiker aus der Schweiz, arbeitete dort im Weinhandel. So richtig anfreunden konnte er sich nicht mit seinem neuen Leben, also zog er wieder um: diesmal nach Vancouver Island – westlicher geht es nicht mehr in Kanada.

Viel Natur, fast wie im Yukon, und das Meer vor der Haustür – paradiesisch, könnte man meinen. Aber auch hier wollte es nicht so richtig klick machen. Doch Beat ist keiner von denen, die sich mit Halbheiten abgeben. Also ging die Suche nach dem Glück weiter.

In Belize scheint er es gefunden zu haben. Belize ist ein kleines Land in Mittelamerika, direkt an der Atlantikküste, zwischen Mexiko im Norden und Guatemala im Westen und Süden. Dort ist er gerade dabei, ein Stück Land zu bebauen – mit einem Haus für sich und Gästehaus für Besucher.

Warum gerade Belize? „Hier kann ich im warmen Wasser tauchen“, sagt er. Das Tauchen hatte es ihm schon in den 70er-Jahren angetan, doch dann ruhte sein Hobby eine Zeitlang. Erst nach Jacquelines Tod entdeckte er sein Hobby wieder und wurde erneut zertifiziert.

„In Belize gibt es viel Neues zu entdecken“, sagt Beat,  „kulturell und in der Natur. Und zu fotografieren und filmen gibt es hier auch jede Menge.“ Was ihm auf Belize noch gefällt: Die Menschen leben dort bescheiden, aber sie kommen seinem Lebensgefühl sehr entgegen: bunte Farben und eine gesunde, kreolische Küche – „ideal für Seele, Körper und Auge“.

Wer sich für Beats neuestes Abenteuer in Belize interessiert, kann seinen YouTube-Kanal hier abonnieren.

Meine Reportage über das Leben von Beat und Jacqueline Korner im Yukon gibt es HIER zu hören:

Die Influencer meiner Kindheit

Mutter hat „Klosterfrau Melissengeist“ geschluckt, wenn es ihr mal nicht gut ging. Vater zündete sich gerne Zigarren der Marke „Handelsgold“ an (zum Wohlgefallen der Kinder, die „verheiratet“ spielen und sich den goldenen Papierring über den Finger stülpen konnten). Der große Bruder leistete sich zum Frühstück schon mal eine Tasse „Ovomaltine“ (Achtung, Sportler!), während der mittlere sich hin und wieder einen Eierlikör der Firma Verpoorten gönnte (Achtung, erwachsen!), wenn auch nicht zum Frühstück.

Eitelkeit wurde in meinem Haus nicht besonders großgeschrieben, Hygiene dagegen schon. Also lag öfter mal ein Päckchen Seife „Irischer Frühling“ oder „Fa“ auf dem Waschbecken. Später, als die Nachkriegswehen nur noch als Legende herhielten, stand „Irish Spring“ grasgrün auf schwarzem Grund gedruckt.

Mindestens eine Sprühdose „Taft“ gehörte auch zur Grundausstattung unseres Badezimmers. Ob es Mutter war, die sich damit das Haupthaar festigte, oder die große Schwester – daran erinnere ich mich beim besten Willen nicht mehr.

Aber daran, dass „Kölnisch Wasser 4711“ zu den Luxusgütern meiner Nachkriegs-Kindheit gehörte, erinnere ich mich noch bestens. Als ich dann im bereits sehr erwachsenen Alter erstmals vor dem 4711-Haus in der Kölner Glockengasse 4 stand, war dies ein ergreifender Moment.

„Tabac“ war meine bevorzugte Marke, wenn es um Rasierwasser ging. Der mittlere Bruder machte sich mehr aus „Russisch Leder“. Womit Vater sich verwöhnte, weiß ich nicht mehr, ich glaube, es war „Old Spice“. Manchmal roch er wie eine Parfümfabrik. Ich liebte das, denn sein Geruch verhieß: Feierabend oder Wochenende. Wer in einem Handwerkerhaushalt aufgewachsen ist, weiß, wie wertvoll arbeitsfreie Stunden damals waren – und heute vermutlich immer noch sind.

Bohnenkaffee gab es nur sonntags und zu besonderen Anlässen. Dann duftete es bei Bopps nach „Jacobs Kaffee wunderbar“. Kostproben davon hatte gelegentlich ein anverwandter Cousin frei Haus geliefert. Der war, nachdem er den Handel mit „Rama“-Margarine – vielleicht war es auch “Sanella” – aufgegeben hatte, Kaffeevertreter geworden. Im VW-Bus tingelte er über Land und brachte seine Ware an Mann und Frau.

Für das alltägliche Frühstück brühte Mutter „Günzburger“ auf. Das war ein Kaffee-Ersatz für Menschen, bei denen das Geld nicht auf den Bäumen wuchs. Wir Kinder kamen zwar selten in den Genuss von „Günzburger Kaffeemittel“, wie das Gesöff vornehm umschrieben wurde. Wir liebten den als „Muckefuck“ bekannten Kaffee-Ersatz aber trotzdem, weil sich in dem gemahlenen braunen Puder stets kleine Überraschungen verbargen: eine Kaffeetasse aus Plastik, eine Kanne gar oder auch nur ein lächerliches Löffelchen. Eine wahre Wundertüte!

Die Zigarettenmarken meiner Jugend hießen „Supra“, „Astor“, „Overstolz“, „Reval“, „Rothändle“ oder „Ernte 23“. Vater rauchte, wenn gerade keine Zigarre zur Hand war, „Peter Stuyvesant“. Vielleicht, weil die Filterzigarette als jene Marke angepriesen wurde, die den „Duft der großen, weiten Welt“ versprühte. Wer besonders cool sein wollte, rauchte „Kent“. Einen besonders geistreichen Slogan dazu hatten wir Buben auch: „Wer Kent kennt, kennt Kent“.

Die Jugend von heute sei verrückt nach Marken, Labels und Brands, sagen Sie? Echt jetzt? Ich wette: vermutlich auch nicht mehr als früher. Nur dass der Begriff des Influencers noch nicht geschaffen war. Ein Influencer war jemand, dessen Ware man riechen, trinken, ertasten und erfühlen konnte. Also jeder.

Ganz schön aufregend, so in der Vergangenheit zu stöbern. In den 60er-Jahren würde das Werbemännchen der Zigarettenfirma jetzt zur Beruhigung der Nerven empfehlen: „Nur nicht in die Luft gehen, greife lieber zur HB.“

Darauf einen Dujardin.

Winter mit Wurstsalat und Brezeln

WINTER IN MONTREAL: So früh war er selten da. Die kuscheligen Cafés meines Herzens freuen sich über noch mehr meiner Besuche. BIXI-Räder machen eine Verschnaufpause. In der Altstadt erstrahlen die Lichter. Und endlich, endlich ist es mir gelungen, richtig leckere schwäbische Laugenbrezeln aufzutreiben. Im äußersten Osten der Stadt, wo sich nicht einmal mehr Fuchs und Hase gute Nacht sagen, liegt versteckt eine kleine Bäckerei mit dem Namen „Breztel & Compagnie“. Den Wurstsalat dazu hat Lore gemacht, die gemütlichen Fotos mit Poppy stammen von Cassians Farm.