Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen zu Hause ist. Aber mein Tag könnte 25 Stunden haben und trotzdem hätte ich das Gefühl, nicht einen Bruchteil dessen gesehen und gelesen zu haben, was ich mir eigentlich vorgenommen hatte. Dass mein Leben so aufregend verläuft, hat vor allem mit dem Internet zu tun. Kein Sendeschluss. Kein Programmbeginn. Und immer was zu gucken. Mit dem Testbild im Fernsehen hatte alles angefangen.
Als ich ein Kind war, bin ich oft ins Haus der Geschwister Klasen gegangen, die in meiner Straße wohnten. Zwei ältere Damen, nie verheiratet, sehr kultiviert und auch nicht ganz arm. Sie hatten etwas, was die meisten in Ummendorf zu jener Zeit noch nicht hatten: einen Fernseher. Einen sperrigen Kasten mit einer düsteren Glasscheibe, die sich leicht konisch und etwas bedrohlich in Richtung Wohnzimmer wölbte. Das war der Bildschirm.
Meistens war es Antonie Klasen, die Ältere der Beiden, die es sich mit mir im Wohnzimmer nett machte. Sie setzte sich neben mich aufs Sofa und strickte oder las ein Buch. Vor uns standen ein Teller Kekse und eine Tasse mit Kakao. Dann machte Fräulein Klasen feierlich den Fernseher an. Bis sich die Röhre erwärmt hatte und der Fernseher sendebereit war, verging manchmal eine Minute oder mehr. Erhellte sich der Bildschirm dann endlich, war der Nachmittag gerettet.

© telegraphuk
Dabei gab es zu jener Zeit noch kein Nachmittagsprogramm. Erst Punkt 17 Uhr verkündete die Fernsehansagerin mit der hochgesteckten Frisur, was der Abend so bringen würde. Doof nur, dass ich um 17 Uhr zu Hause sein musste. Nur manchmal, ganz selten, schaffte ich es, bis 17:05 zu bleiben. Länger ging nicht, sonst hätte es Ärger gegeben. Aber auch vor 17 Uhr war es ein erhebendes Gefühl, im Kreise kultivierter Damen fernsehen zu dürfen. Es war nämlich nicht so, dass der Schwarz-Weiß-Bildschirm bis zum Auftritt der blonden Ansagerin schwarz geblieben wäre. Es gab ja schließlich das Testbild. Viele Striche in allen Schattierungen, ein paar kleine Kreise und ein großer um das Ganze herum. Und viele Buchstaben und Zahlen, die ich nicht entziffern konnte. Sah ein bisschen aus wie die QR-Codes für Smartphones.
Mein Nachmittags-Vergnügen: Testbild live vom Übelhorn
So saßen wir manchmal stundenlang, die Fräuleins und ich. Sie strickten. Ich kuckte das Testbild des Bayerischen Rundfunks. Es kam vom Sender Grünten, auf dem Gipfel des Übelhorns. Wo das Übelhorn liegt und warum der Sender Grünten hieß, war mir wurscht. Was zählte, war: Über diese Holzkiste mit der Glasscheibe hatte ich Kontakt zu einer Welt, die mir bis dahin verschlossen war.
Als ich längst in Kanada lebte und schon sehr früh das Internet in unser Haus holte, gab es ein Déjà-vu. Auch jetzt konnte ich stundenlang vor dem unförmigen Schwarzweiß-Monitor sitzen und mir Bilder auf einigen spärlich bestückten Seiten anschauen.
Im Schneckentempo über die Datenautobahn
Auf der „Datenautobahn“ gab es damals noch eine ziemlich fiese Geschwindigkeitsbegrenzung. Die lag bei 56 kbit/s. So viel schaffte das Schneckenmodem gerade noch. Eine Verbindung war nur über Telefon möglich. Bis sich eine Seite aufgebaut hatte, verging, wie damals beim Schwarzweiß-Fernseher der Fräuleins Klasen, eine Minute und mehr. Auch wenn im Internet die Langsamkeit neu erfunden wurde, war auch jetzt wieder dieses prickelnde Gefühl da, einen Draht zur Welt da draußen gelegt zu haben.
Die Faszination des Internets ist geblieben. Auch heute noch kann ich mich stundenlang auf Seiten verlieren, die ich zufällig angeklickt habe. Neulich bin ich auf der Homepage eines afrikanischen Fernsehsenders gelandet. Ehe die Sicht auf den Seiteninhalt frei wurde, ritt erst einmal ein Prinz auf einem Elefanten seelenruhig von rechts nach links über den Monitor. Und anschließend noch einmal von links nach rechts. Dann öffnete sich ein virtueller Vorhang. Das nenne ich Stil. Oder eine karibische Homepage, auf der lustige Affen einen richtigen Zirkus veranstalten, ehe es zum Radioprogramm geht. Total exotisch auch die Homepage des nordkoreanischen Staatsrundfunks. Ich liebe solche Seiten.
Sie kennen doch bestimmt auch jede Menge davon. Schicken Sie mir den Link? Danke. Ich klicke mich derweil durch die neue Homepage der sozialistisch-sandinistischen Minderheitsimmigranten in Antarktika.
Die Geschichte des Testbilds – Süddeutsche Zeitung vom 12. Juli 2020