Im Epizentrum des Elends

IMG_2106Lassen Sie sich von dem Foto oben nicht blenden. Nichts ist normal hier. Selbst die Gartenstühle auf einer begrünten Verkehrsinsel unterhalb der Pilgerkirche St.Joseph sind gewöhnlich nicht dort. Die Stadt Montreal hat sie aufgestellt, um den Bewohnern einen Hauch von Normalität vorzugaukeln.

In Wirklichkeit läuft hier alles auf eine nicht endende Katastrophe hinaus. Die Provinz Quebec ist das kanadische Epizentrum der Pandemie. Von den mehr als 4000 Toten in ganz Kanada (Einwohnerzahl: 38 Millionen) sind in Quebec (Einwohnerzahl: 8 Millionen) mehr als 2500 zu beklagen, weit mehr als die Hälfte also. Und es werden kaum weniger. Allein in den letzten 24 Stunden sind 121 an Covid-19 gestorben.

Mein Freund Marcel hat nachgerechnet: Allein in Quebec gibt es im Vergleich zu Nordrhein-Westfalen bei einer ähnlichen Zahl an Infizierten doppelt so viele Tote.

Trauer ist nicht mehr das richtige Wort für diese Entwicklung, Betroffenheit ohnehin nicht. Wut schon eher. Wut auf die Politik, die hier wieder einmal übelst versagt.

Auch wenn der überaus sympathische Ministerpräsident François Legault bei seinen täglichen Pressekonferenzen kaum einen Versuch unternimmt, die Auswirkungen der Pandemie zu rechtfertigen, im Gegenteil, er entschuldigt sich sogar persönlich dafür, führt kein Weg daran vorbei, dass die Regierungen der vergangenen Jahrzehnte die Zeichen an der Wand zwar gesehen, aber ignoriert haben.

Die Zeichen an der Wand waren: Zu wenig Krankenhausbetten, zu wenig Personal, zu viel Bürokratie und alles in allem ein groteskes Missmanagement der Resourcen.

Der angesehene Journalist Patrick Lagacé trickste seine Leser in seiner heutigen Kolumne für “La Presse” aus. “Wir berichteten neulich, dass die Regierung die Lage in den Notaufnahmestationen der Montrealer Krankenhäuser endlich in den Griff bekommen will”.

Das “neulich” trägt in Wirklichkeit das Datum vom 11. März 1980. So lange schon gelobt eine Regierung nach der anderen Besserung. Aber passiert ist genau: nichts.

Jetzt fliegt dem Staat diese Inaktivität um die Ohren. In einer nie dagewesenen Brutalität rächen sich die Sünden der Vergangenheit.

Es fehlen mehr als 11000 Männer und Frauen in der Alten- und Krankenpflege. In den

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Altenheim bei Montreal: 31 Tote in drei Wochen.

Altenheimen, wo mit Abstand die meisten Todesopfer zu beklagen sind, hat eine regelrechte Flucht des Pflegepersonals eingesetzt. Tausende kehren nicht mehr an ihre Arbeitsplätze zurück. Sie haben Angst, sich anzustecken, sind bereits infiziert oder schlicht zu erschöpft, um ihren Job noch zu verrichten.

Mangelndes Pflegepersonal ist hier seit Jahrzehnten ein Thema, nicht nur in den Krankenhäusern, sondern vor allem auch in den staatlichen und privaten Altenpflegeheimen.

Einer der Hauptgründe für diese Misere ist von jeher die schlechte Bezahlung. Wer am Monatsende mit knapp mehr Geld in der Tasche nach Hause geht als das Sozialamt bezahlt, den bringt die inzwischen übliche Glorifizierung als “Held” oder “Schutzengel” auch nicht weiter.

“Warum wurden diesen Menschen nicht schon viel früher attraktive Arbeitsverträge angeboten?”, heißt die Frage, die sich die Entscheidungsträger in Quebec tagtäglich anhören müssen. Immer häufiger fällt in den Kommentaren namhafter Journalisten das Wort “Misswirtschaft”.

Geld für den bizarren Sprachenstreit zwischen Franko- und Anglokanadiern war immer da. Genug, um eine Sprachenpolizei zu unterhalten, die bis zum heutigen Tag noch immer kontrolliert, ob die französische Bezeichnung der in Läden ausgestellten Waren auch tatsächlich doppelt so groß ist wie die englische. So nämlich schreibt es in dieser Provinz das Gesetz vor.

Jetzt, mitten in der schlimmsten Katastrophe, die das Quebecer Gesundheitswesen je gesehen hat, ist der Jammer groß. Prämien hier, Gehaltserhöhungen dort – Geld spielt plötzlich keine Rolle mehr.

Aber es ist zu spät.

Quebec ist ein wunderbarer Flecken Erde, den ich mir vor fast 40 Jahren ganz bewusst zum Leben ausgesucht hatte. Aber es ist auch ein Flecken, in dem ein defektes System vor sich hinmodert, das keiner mehr aufzuhalten in der Lage ist.

“Wir haben uns schlicht und einfach daran gewöhnt”, schreibt Patrick Lagacé in seiner heutigen “La Presse”-Kolumne. Und er verspricht, die Schwachstellen der Politik auch weiterhin anzuprangern – auch wenn er für seine kritische Berichterstattung jetzt immer mehr Prügel von Lesern bezieht, die der Meinung sind, mitten in einer Pandemie gehöre es sich nicht, das eigene Nest zu beschmutzen.

“Wenn Ihnen das nicht passt”, so der Journalist Lagacé heute, “können Sie ja Regenbogen malen oder sich genüsslich Ihrer Seifenoper widmen”.

5 Gedanken zu „Im Epizentrum des Elends

  1. Schließe mich dem Kommentar von Uli an. Bleibt gesund! Grüße aus dem schönen Schwarzwald, SonjaM

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  2. Ihr Armen!!!! Und das schlimmste in meinen Augen: es scheint sogar das Licht am Ende des Tunnels erloschen zu sein. Da geht man glaube ich gerne freiwillig in Quarantäne. Der Journalist Lagacè trifft den Nagel auf den Kopf. Bleibt gesund!

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  3. Lieber Hebo, ich habe den Beitrag geteilt, um damit die Menschen hier in Deutschland zu dokumentieren, in welch wunderbarem Land wir hier leben und auf welch hohem Niveau wir hier jammern und motzen.

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  4. Ach Herbert, das hast du jetzt so super wiedergegeben!
    Ich hoffe nur, dass im Laufe der Zeit, wenn alles vielleicht mal vorbei ist und es wieder ein Nach-Corona-Leben gibt, nicht all die guten Vorsätze etwas (vieles!) zu ändern, ganz einfach vergessen werden!
    Viele Grüsse
    Christa

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  5. Klingt aber gar nicht gut. Und da hilft es auch nicht zu wissen, dass es hier in den USA nicht besser ist.
    Liebe Gruesse, und bleib‘ gesund,
    Pit

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