Die Welt auf meinem Rücksitz

Mutter malt wieder, Vater fährt Taxi. Und der Sohn freut sich, dass die nicht mehr ganz taufrischen Eltern dabei so etwas wie ihr spätes Glück gefunden haben. Dass die Uber-Fahrerei mich so in ihren Bann ziehen würde, hätte ich nicht geglaubt. Aber das Leben als Hobby-Chauffeur passt perfekt in meine momentane Lebenssituation: Sitzen statt gehen. Konzentrieren statt grübeln. Ablenken von den Zipperlein.

Dass ich mit 75 zum ersten Mal im Leben morgens eine Lunchbox einpacken würde, um später meine Mittagspause am sonnigen Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms einzulegen, hätte ich mir noch vor wenigen Wochen nicht träumen lassen. Sowas gibt es nicht für Geld. Sowas muss man sich verdienen. Wie gestern im Vorort Lachine, wo das Foto entstanden ist.

Wenn ich am späten Vormittag das Haus verlasse, um über die nächsten Stunden Fahrgäste aus der ganzen Welt sicher durch das Montrealer Chaos zu bringen, steigt der Adrenalinspiegel schon beim Einsteigen um gefühlte 100 Prozent.

Wer wird mein erster Fahrgast sein? Wohin möchte sie chauffiert werden? Spricht er Englisch mit mir oder Französisch? Oder gar nicht?

Erst neulich habe ich gelernt, dass Passagiere bereits bei der Buchung die Option „Keine Unterhaltung erwünscht“ anklicken können. Bisher hat sich bei mir noch niemand über zu viel Text im Taxi beschwert.

Exzessives Uber-Fahren hat Suchtpotenzial. Blinkt die Taxi-App kurz vor 16 Uhr auf und signalisiert mir noch eine Fahrt zum Flughafen, kann ich schlecht nein sagen. Dabei wollte ich meinen Arbeitstag doch spätestens um drei Uhr nachmittags beenden.

Vier, fünf Stunden in einer Millionenstadt hinterm Steuer sind für einen 75-Jährigen eigentlich auch genug. Aber natürlich lehne ich nicht ab, wenn kurz vor Feierabend noch eine „Monique“, ein „Steve“ oder – wie gestern der Fall – eine „Lore“ von Côte-Saint-Luc nach Outremont gefahren werden möchte. Bei Uber gibt es übrigens nur Vornamen.

Als diese „Lore“ ein Uber bestellte, dachte ich zunächst wirklich an einen Scherz. Will die Frau an meiner Seite etwa meine Fahrtauglichkeit testen? Das würde so gar nicht zu „meiner“ Lore passen.

Nein, die Taxi-Lore war eine mexikanische Nanny, die zur Kita gefahren werden wollte, um die ihr anvertrauten Kinder abzuholen. „Lore“, sagte mir Lore, sei ein in Mexiko nicht unüblicher Frauenname.

Wieder etwas dazugelernt.

Geschichten? Davon gibt es mehr als in einen Blogpost passen würden. Schon jetzt könnten ganze Buchseiten mit ihren gefüllt werden. Nur so viel:

Wer einmal mit einem schluchzenden Teenager auf dem Rücksitz durch die Rush Hour gefahren ist, lernt Demut vor dem Schmerz kennen.

Wer einmal mit einem professionellen DJ um die Wette geplappert hat, weiss, wozu menschliche Münder fähig sind.

Wer einmal als Deutscher von einem Fahrgast aus Israel zu einem politischen Statement herausgefordert wird, während vor der Windschutzscheibe eine pro-palästinensische Gaza-Demo tobt, wünscht sich nur noch das schnelle Ende seiner Schicht herbei.

Und wer einmal einem Escort-Girl bei Preis-Verhandlungen zugehört hat, weiß, wo die Musik spielt.

Geschichten aus dem richtigen Leben – allein schon dafür hat sich die Taxifahrer-Prüfung gelohnt.

Neugierig? Freuen Sie sich über die „Uber Chroniken“. Demnächst in diesem Blog. Oder, wer weiß, vielleicht bei irgendeinem Buchverlag.

Mutter malt …
Vater fährt Taxi …
… und zur Mittagspause geht’s an den großen Fluss.

7 Gedanken zu „Die Welt auf meinem Rücksitz

  1. Vielleicht sollte ich es auch mal probieren, das Uber-Fahren. Oder das Malen wieder aufnehmen. Das Bild, das Deine Frau malt, sieht prima aus.

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  2. Toll! Taxifahren scheint wirklich Suchtpotenzial zu haben. Schön, dass Du die Leser Deines Blogs an Deinen Erlebissen teilhaben lässt!

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  3. Ganz toll. Herzlichen Glückwunsch zu Deiner neuen, erfüllenden Karriere. Drive safe! Und morgen etwas über Lores Malerei?

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  4. Selbstverständlich verlangt Uber von jedem Fahrer einen Personenbeförderungsschein, der auch zum Taxifahren berechtigt. Und noch 12 andere Dokumente. Das Vorstrafenregister wird hier genauso abgecheckt wie die Flensburger Punkte. Dazuhin wird das Auto zweimal im Jahr einem Spezial-TÜV unterzogen. Französisch und andere Tests sind ebenso selbstverständlich wie ein Crashkurs im Umgang mit sexual harassment. In einem Segment des Lehrgangs für Uber-Fahrer wird jeder Teilnehmer auf den Umgang mit körperbehinderten Menschen geschult.

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  5. Herzlichen Glückwunsch zur richtigen Entscheidung! Das funktioniert auch nur auf dem Nachbarkontinent.

    Hier werden BürgerInnen über 70 bei jedem einzelnen Unfall in den Medienberichten gedrängt, sich doch bitte alle 3Jahre auf ihre Fahrfähigkeiten testen zu lassen. Das hat die EU Gottlob nicht mitgemacht und somit die SeniorInnen auf der gleichen Stufe wie 18-jährige FahranfängerInnen belassen.

    Hier könntest Du ohne Personenbeförderungsschein niemanden transportieren… auch Uber verlangt dieses Teil.

    Viel Freude an Berufs- und Landeswahl sowie ein dolles Dankschön fürs Teilhaben-Lassen!

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