Gestern war ein ganz besonderer Tag. Im Postfach lag ein mit Schreibmaschine getippter Brief. Schneckenpost! Fein säuberlich, ohne einen einzigen Fehler. Der Brief stammt von einer 93jährigen Dame aus dem Schwarzwald. Wir haben sie vor Jahren bei einer Hochzeit in Winnipeg/Manitoba kennen gelernt und dürfen sie seither „Tante Elfriede“ nennen.
Tante Elfriede schreibt, es gehe ihr gut und wie sehr sie sich über unsere Geburtstagsglückwünsche aus Mallorca gefreut habe. „Eine ganz besondere Insel!“ Und dann fragt sie noch, wie es uns im neuen Zuhause in der Stadt gefällt, das wir ja im vorigen Sommer gegen das Haus auf dem Land eingetauscht hatten.
„Wisst Ihr“, schreibt Tante Elfriede, „ich habe den Zeitpunkt für Veränderungen verpasst“. Sie lebe schon seit über 70 Jahren im selben Haus, am gleichen Platz. „Die Verhältnisse ergaben das so“.
Zusammen sind sie fast 200 Jahre alt
Die Verhältnisse haben es auch so ergeben, dass es ausgerechnet gestern noch eine andere Begegnung mit einer alten Dame gab. Sie heißt Marga und ist, wie Tante Elfriede, ebenfalls 93 Jahre alt. Zwei wunderbare Menschen, die zusammen fast zweihundert sind.
Marga stammt aus Berlin und hat fast ihr ganzes Leben in Kanada verbracht. Bis zum vorigen Sommer war sie unsere Nachbarin im Dorf. Sie hat viel dazu beigetragen, dass wir uns in Kanada nie allein gefühlt haben. Wir haben keinerlei Verwandtschaft hier, unser Sohn wusste nur vom Hörensagen, was eine Tante so tut und ob man einen Onkel in Deutschland duzen darf oder nicht. Marga war Nachbarin, Freundin und Oma-Ersatz in einem.
Vom Rückspiegel baumelt der Rosenkranz
Marga ist im Dorf geblieben, wir sind weggezogen. Ab und zu telefonieren wir miteinander. Auch ihr geht es gut. Sie wohnt noch immer allein in ihrem Hexenhäuschen und versorgt sich selbst, fährt sogar noch jeden Tag mit dem Auto zur Kirche. Den Rosenkranz, der am Rückspiegel baumelt, kennt im Dorf jeder. Marga ist damit unfallfrei durchs Leben gefahren.
Auch Marga schreibt uns manchmal Briefe, keine getippten, sondern handgeschriebene. Wir hüten sie wie einen Schatz. Wer bekommt denn heutzutage noch Briefe, die mit der Maschine getippt oder mit dem Füllfederhalter geschrieben wurden? Mails, ja. SMS sowieso. Aber Schneckenpost?
Zehnfingersystem im Gasthaus „Bäumle“
Als ich Elfriedes getippten Brief in der Hand hielt, musste ich an meine eigene vordigitale Steinzeit denken. Sie begann im „Bäumle“ in Ummendorf. Über Monate hinweg kam an einem Abend in der Woche ein Schreibmaschinenlehrer aus der Kreisstadt, um den Landbewohnern im Nebenzimmer einer Bierkneipe die hohe Kunst des Tippens beizubringen.
Im Tipptakt zu „Alle meine Entchen“
Natürlich wusste ich um den Nutzen so eines Schreibmaschinenkurses. Aber ich kam mir auch reichlich blöd dabei vor, auf den Takt von „Alle meine Entchen“ einen Brief abzutippen. A_S_D_F_G_G_H_H_H_H. Und so weiter. Aber der Einsatz hat sich gelohnt. In der ersten Redaktion, in der ich arbeitete, war ich, außer der Sekretärin, der Einzige, der blind mit zehn Fingern tippen konnte.
Es gab Zeiten, da ließen sich Leute von sowas tatsächlich noch beeindrucken.
Irene erinnerte sich mit Schmunzeln ebenfalls an ihren Schreibmaschinenkurs mit der mechanischen Tastatur. Das Erlernen von Steno-Fähigkeiten war auch so ein Akt.
Grüße aus dem kühlen Badnerland.
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