
Seit knapp einer Woche verbringen wir unsere Zeit in einem 200 Jahre alten Bauernhaus im Süden von Quebec, unweit der amerikanischen Grenze. Die Farm selbst wird nicht mehr bewirtschaftet. Aber sie ruft Erinnerungen an meine Kindheit wach.
Meine Mutter stammte aus einem Dorf namens Dietenwengen, irgendwo zwischen Ulm und Bodensee. Es gab dort ein Dutzend Bauern, einen Krämerladen mit Käserei und Milchsammelstelle, eine Gastwirtschaft mit Kegelbahn, eine Kirche und die örtliche Möbelschreinerei. Die gehörte meinem Großvater, der wiederum von einem Bauernhof abstammte.
Als Schreinermeister drechselte “Opa Gaibler” nicht nur kunstvolle Treppengeländer, Kleiderschränke und Kinderbetten. Er galt in unserer Familie auch als der “Meister des Worts”.
Kein runder Geburtstag, für den mein Opa nicht ein Gedicht schrieb, keine Goldene Hochzeit, die er nicht mit einem literarischen Essay umrahmte.
Opas Gedichte waren legendär. Dass ich viele von ihnen vortragen musste, fand ich nicht so toll. Aber wer will seinem Großvater schon widersprechen?
Opa Gaibler war also der Dichter und Denker in meiner Familie. Ob ich ohne ihn je Journalist geworden wäre? Wer weiss. Mit Sicherheit hat er mir vorgemacht, wie “Geschichten erzählen” geht. Wäre mein Opa noch am Leben, würde man ihn einen guten “Storyteller” nennen.
Die Sommer- und Herbstferien verbrachten wir Kinder meistens in Dietenwengen. Wir durften mit dem Traktor über die Äcker fahren, den Feldarbeitern das Vesper mit einem Krug Apfelmost bringen. Den Waldarbeitern sahen wir beim Holzfällen zu, der Tierarzt begrüßte uns mit Handschlag und der Metzger jagte uns Angst ein, wenn er mal wieder vor unseren entsetzten Kinderaugen ein Schwein mit dem Bolzenschießer erlegte.
Abends, wenn die Kühe gemolken waren, mussten wir die vollen Milchkannen aus Blech auf einem Leiterwagen zur Sammelstelle schleppen. Und da wir schon am „Lädele“ waren, besorgten wir uns auch gleich “a Guatsle” oder “en Kautzge”. Bonbons und Kaugummi gab es meistens umsonst. Die Krämersfrau hatte ein Herz für Kinder.
An all das wurde ich gestern erinnert, als ich eine mehrstündge Spazierfahrt durch die prärieartige Gegend machte, die sich “Montérégie” nennt.
Die Landschaft lässt sich am besten so beschreiben: Vorne Holland, dahinter die Schweiz. Die topfebenen Wiesen und Felder gehen fast nahtlos in die spektakulären Berge der “Adirondacks” über. Dort, im US-Bundesstaat New-York, wurden 1980 die Olympischen Winterspiele ausgetragen.
Hier, wo ich mich im Moment aufhalte, leben die Menschen fast ausschließlich von der Viehzucht und dem Getreideanbau. Aber es gibt auch riesige Apfel-Plantagen, sogar Wein wird hier geerntet. Großflächige Ländereien schmiegen sich an die Berg-Kulisse. „Märklin-Eisenbahn“, kommentierte mein Freund Frank, als er uns vorige Woche auf der Farm besuchte.
Eine Käserei gibt es auch hier, sie gehört einem Schweizer namens Fritz Kaiser und gewinnt mit ihren Produkten internationale Preise am laufenden Band.
Die meisten der Quebecer Farmer betreiben ihre Wiesen und Felder schon seit Generationen in dieser Gegend. Aber in den letzten drei, vier Jahrzehnten haben sich immer mehr Großbauern aus Österreich, Belgien, Frankreich, Holland, Deutschland und der Schweiz niedergelassen. In der Heimat war das Land knapp geworden, also wanderte man nach Kanada aus.

Man erkennt sie an den Flaggen, die auf den riesigen Getreidesilos wehen, die höher sind als der Ummendorfer Kirchturm. Auf die Herkunft der Farmer lassen aber auch die Namen schließen, die kunstvoll auf Schilder gemalt sind, die am Eingang zum Hof stehen. In dem Dorf Lacolle, unweit der Farm, auf der wir gerade sind, gibt es einen Metzger namens Stefan Frick. Er stammt aus dem Schwarzwald und hat sich mit hervorragenden Produkten einen Namen weit über die Grenzen hinaus gemacht.
Wobei “Grenzen” hier durchaus wörtlich gemeint ist. Bis zu den US-Bundesstaaten New-York und Vermont ist es von hier aus nur ein Katzensprung. Nicht nur wegen des für sie günstigen Wechselkurses stürmen die Amerikaner zurzeit massenweise die US-kanadische Grenze.
Unsere Ferien auf dem Bauernhof neigen sich dem Ende zu. Schade zwar, aber nicht weiter schlimm, denn wir können jederzeit wiederkommen. Die Farm ist jetzt im Familienbesitz.


