Vorne Holland, hinten die Schweiz

LANDLEBEN IN DER MONTÉRÉGIE: Vorne Flachland, dahinter die Berge.

Seit knapp einer Woche verbringen wir unsere Zeit in einem 200 Jahre alten Bauernhaus im Süden von Quebec, unweit der amerikanischen Grenze. Die Farm selbst wird nicht mehr bewirtschaftet. Aber sie ruft Erinnerungen an meine Kindheit wach.

Meine Mutter stammte aus einem Dorf namens Dietenwengen, irgendwo zwischen Ulm und Bodensee. Es gab dort ein Dutzend Bauern, einen Krämerladen mit Käserei und Milchsammelstelle, eine Gastwirtschaft mit Kegelbahn, eine Kirche und die örtliche Möbelschreinerei. Die gehörte meinem Großvater, der wiederum von einem Bauernhof abstammte. 

Als Schreinermeister drechselte “Opa Gaibler” nicht nur kunstvolle Treppengeländer, Kleiderschränke und Kinderbetten. Er galt in unserer Familie auch als der “Meister des Worts”. 

Kein runder Geburtstag, für den mein Opa nicht ein Gedicht schrieb, keine Goldene Hochzeit, die er nicht mit einem literarischen Essay umrahmte.

Opas Gedichte waren legendär. Dass ich viele von ihnen vortragen musste, fand ich nicht so toll. Aber wer will seinem Großvater schon widersprechen?

Opa Gaibler war also der Dichter und Denker in meiner Familie. Ob ich ohne ihn je Journalist geworden wäre? Wer weiss. Mit Sicherheit hat er mir vorgemacht, wie “Geschichten erzählen” geht. Wäre mein Opa noch am Leben, würde man ihn einen guten “Storyteller” nennen.

Die Sommer- und Herbstferien verbrachten wir Kinder meistens in Dietenwengen. Wir durften mit dem Traktor über die Äcker fahren, den Feldarbeitern das Vesper mit einem Krug Apfelmost bringen. Den Waldarbeitern sahen wir beim Holzfällen zu, der Tierarzt begrüßte uns mit Handschlag und der Metzger jagte uns Angst ein, wenn er mal wieder vor unseren entsetzten Kinderaugen ein Schwein mit dem Bolzenschießer erlegte. 

Abends, wenn die Kühe gemolken waren, mussten wir die vollen Milchkannen aus Blech auf einem Leiterwagen zur Sammelstelle schleppen. Und da wir schon am „Lädele“ waren, besorgten wir uns auch gleich “a Guatsle” oder “en Kautzge”. Bonbons und Kaugummi gab es meistens umsonst. Die Krämersfrau hatte ein Herz für Kinder.

An all das wurde ich gestern erinnert, als ich eine mehrstündge Spazierfahrt durch die prärieartige Gegend machte, die sich “Montérégie” nennt. 

Die Landschaft lässt sich am besten so beschreiben: Vorne Holland, dahinter die Schweiz. Die topfebenen Wiesen und Felder gehen fast nahtlos in die spektakulären Berge der “Adirondacks” über. Dort, im US-Bundesstaat New-York, wurden 1980 die Olympischen Winterspiele ausgetragen.

Hier, wo ich mich im Moment aufhalte, leben die Menschen fast ausschließlich von der Viehzucht und dem Getreideanbau. Aber es gibt auch riesige Apfel-Plantagen, sogar Wein wird hier geerntet. Großflächige Ländereien schmiegen sich an die Berg-Kulisse. „Märklin-Eisenbahn“, kommentierte mein Freund Frank, als er uns vorige Woche auf der Farm besuchte.

Eine Käserei gibt es auch hier, sie gehört einem Schweizer namens Fritz Kaiser und gewinnt mit ihren Produkten internationale Preise am laufenden Band.

Die meisten der Quebecer Farmer betreiben ihre Wiesen und Felder schon seit Generationen in dieser Gegend. Aber in den letzten drei, vier Jahrzehnten haben sich immer mehr Großbauern aus Österreich, Belgien, Frankreich, Holland, Deutschland und der Schweiz niedergelassen. In der Heimat war das Land knapp geworden, also wanderte man nach Kanada aus.

„WIE DIE MÄRKLIN-EISENBAHN!“ (Mein Freund Frank über de Farm)

Man erkennt sie an den Flaggen, die auf den riesigen Getreidesilos wehen, die höher sind als der Ummendorfer Kirchturm. Auf die Herkunft der Farmer lassen aber auch die Namen schließen, die kunstvoll auf Schilder gemalt sind, die am Eingang zum Hof stehen. In dem Dorf Lacolle, unweit der Farm, auf der wir gerade sind, gibt es einen Metzger namens Stefan Frick. Er stammt aus dem Schwarzwald und hat sich mit hervorragenden Produkten einen Namen weit über die Grenzen hinaus gemacht. 

Wobei “Grenzen” hier durchaus wörtlich gemeint ist. Bis zu den US-Bundesstaaten New-York und Vermont ist es von hier aus nur ein Katzensprung. Nicht nur wegen des für sie günstigen Wechselkurses stürmen die Amerikaner zurzeit massenweise die US-kanadische Grenze.

Unsere Ferien auf dem Bauernhof neigen sich dem Ende zu. Schade zwar, aber nicht weiter schlimm, denn wir können jederzeit wiederkommen. Die Farm ist jetzt im Familienbesitz.

OPA GAIBLER (rechts) Schreinermeister und „Meister des Worts“. Soweit bekannt, war mein Großvater Besitzer des ersten (und lange Zeit einzigen) Autos in Dietenwengen.
LANDLEBEN IN DIETENWENGEN: Kühe, Krämerladen und Käserei.

Frank Plasberg: Freund, Talker, Patenonkel und Trauzeuge

FRANK AUF DER FARM – Foto: Michelle Schreck

Die Freundschaft zwischen dem Lokalredakteur Herbert Bopp aus Ummendorf und dem späteren Starmoderator Frank Plasberg aus Köln begann vor gut 45 Jahren in einer Kneipe im Allgäu. Ich saß mit Kollegen bei Bier und Maultaschen im “Blumenstrauß”. Aus der Küche schwappten kluge Wortfetzen zu uns herüber – auf Hochdeutsch! Da klingen im oberschwäbischen Leutkirch sämtliche Alarmglocken.

Ein dünner Kerl im schwarzen Rolli erklärt dem Küchenpersonal zu später Stunde seine Welt. Frank Plasberg hatte sein Publikum gefunden – damals noch ohne Fernsehkameras.

Er war gerade mal achtzehn und hatte kurz zuvor bei der Schwäbischen Zeitung in Leutkirch eine Ausbildung als Redakteur begonnen. 

Frank ist Frank geblieben. Nur ist er heute nicht mehr der 18jährige Küchenpsychologe vom “Blumenstrauß”. Als kluger Welterklärer und messerscharfer Analytiker wurde er zum sprachgewaltigen Fernsehstar. Seine Sendung “hart aber fair” wurde mit Preisen überhäuft. 

Vor wenigen Tagen war Schluss. Nach 22 Jahren hat sich Frank Plasberg von seiner Polit-Talkshow verabschiedet. “Es ist genug”, resümierte er in einem der Dutzenden von Interviews, die er zu seinem Abschied gegeben hat.

Was ein großer Verlust fürs Fernsehpublikum ist, entpuppt sich als Gewinn für uns: Endlich hat Frank wieder einmal Zeit, uns in Montreal zu besuchen. 

Waren es 12, 15 oder gar 18 Mal, die Frank schon bei uns zu Gast war? Wir bekommen es nicht mehr auf die Reihe. Aber was sind schließlich Zahlen, wenn es um etwas so Großes wie “Freundschaft” und “Patenonkel” geht. Der ist nämlich Frank für Cassian. 

Ich habe Frank nicht nur eine Freundschaft zu verdanken, die jetzt schon ein Erwachsenenleben andauert. Er war es auch, der aus mir, dem gelernten Zeitungsreporter, einen Radiojournalisten machte.

Frank arbeitete damals als Moderator bei SWF3, ich hatte gerade mein Korrespondenten-Büro in Montreal eröffnet. Frank kam, richtete mit mir zusammen ein kleines Tonstudio ein, half mir mit Tipps und Kontakten auf die Sprünge. Vom schnörkeligen Zeitungs-Deutsch müsse ich mich jetzt leider verabschieden, sagte er. Beim Radio sei „Sprechsprache“ gefragt. „Sag einfach, was Sache ist“.

Ohne Frank wäre ich nicht da, wo ich heute bin. So einfach ist das.

Wir haben zusammen Campingurlaub gemacht, gekocht, gegessen, gefeiert und getrunken. Wir haben geschrieben, gefilmt, fotografiert und recherchiert. Wir waren im Team unterwegs durch Kanada und die USA. Und natürlich haben wir uns häufig auf Mallorca getroffen, auch in Köln. Und immer wieder im Allgäu.

Wir machen das, was Freunde so machen: Viel Zeit miteinander verbringen, auch wenn es logistisch nicht immer einfach ist.

Runde Geburtstage? Frank war da. Wie damals, an diesem bitterkalten 12. Februar, als wir noch in dem Dorf Hudson lebten. Es ist abends, irgendwann klopft es an die Tür. Ein Blick in die Winternacht hinaus: Nichts!

Kurze Zeit später klopft es wieder. Genervt gehe ich an die Tür. Wieder niemand. Aber aus dem frischen Schnee auf dem Autodach ragt eine Flasche Himbeergeist. „Schladerer“, meine Lieblingsmarke. Und ich wusste: Wo „Schladerer“ ist, ist auch Frank nicht weit. Er hatte wieder einmal eine Geburtstags-Überraschung geschafft.

Einmal führte uns eine Recherche-Reise zu den Amisch-People nach Pennsylvania. Ein andermal zu den Niagarafällen. Und auch bei der Münchner “Abendzeitung” standen unsere beiden Namen einmal in einer Autorenzeile. Ein Verwirrter hatte sich vom Ulmer Münster gestürzt und beim Aufprall ein unbeteiligtes Pärchen mit in den Tod gerissen.

DER PATENONKEL: Frank und Cassian,1987

Franks Besucherprogramm in Montreal war diesmal überschaubar. Ein Besuch im jüdischen “Smoked Meat”-Diner “Schwartz’s” war ein Muss, eine Nacht auf Cassians Farm das reine Vergnügen. Ein verspätetes Thanksgiving-Dinner bei guten Freunden ein kulinarisches Highlight. 

Dazwischen viele Plauderstunden mit Geschichten, die fast schon in Vergessenheit geraten wären. Zum Beispiel diese hier:

Frank und ich waren irgendwann in den 80er-Jahren in Manitoba unterwegs. Ein unbeschrankter Bahnübergang hatte es dem Kölner Eisenbahn-Fan angetan. Frank bestand darauf, die Ankunft des Zuges abzuwarten. Irgendwo im Nirgendwo der kanadischen Prärie schnappte er sich einen Campinghocker und setzte sich ans Bahngleis. 

Kanadische Güterzüge sind lang. Wie lang? Frag Frank.

Der legt ein Ohr auf die Schienen und tippt auf “30 bis 40 Waggons mit mindestens zwei Loks”.  Es wäre gelogen zu behaupten, ich wüsste noch, ob er richtig lag oder falsch. Ich tippe auf richtig.

Richtig ist auf jedenfall, dass Lore Frank schon länger kennt als ich – unabhängig von mir. Sie lebte schon vor mir als Künstlerin in Leutkirch, als der Kölsche Jung im “Blumenstrauß” seine Welt verklickerte. 

An Frank führte im Allgäu schon bald kein Weg mehr vorbei. An Lore übrigens auch nicht. Sie wurde Jahre später meine Frau. 

Unser Trauzeuge? Frank Plasberg.

Ein Garant für Beständigkeit war er schon immer. Wir sind seit 35 Jahren verheiratet.

DER TRAUZEUGE: Frank, rechts, 1987
FREUND UND MALLORCA-FAN: (2017)
TV-TALKER FRANK: Bei seiner letzten Sendung am 14. November 2022

Vor 50 Jahren begann mein Traum

VOR 50 JAHREN FING ALLES AN: Von links nach rechts: Oskar Beck, Uschi Entenmann, Uli Reinhardt, Herbert Bopp, Ingrid Eißele.

Der 1. Mai 1968 war ein Mittwoch. Über den Weinbergen des Remstals ging ein warmer Frühlingsregen nieder. Der Fußweg von meinem möblierten Zimmer zur Redaktion der Waiblinger Kreiszeitung dauerte eine halbe Stunde und führte an der Bahnhofswirtschaft vorbei.

Männer mit lustigen Hüten tranken auf nassen Holzbänken ihr Viertele. Ich tippte lässig mit der rechten Hand an meine karierte Schlägermütze. Die Männer grumselten irgend etwas von „Wo kommt der denn her?“ und ich ging meines Wegs, schnurstracks in die Zukunft.

So begann der Tag, an dem sich der Traum meines Lebens erfüllt hatte. Es war der Tag, an dem ich Journalist geworden bin. Das heißt: Noch war ich Redaktionsvolontär, damit fängt jede ordentliche journalistische Ausbildung an.

 Mein Volontariat begann am 1. Mai 1968 in Waiblingen im Remstal.

Das moderne Redaktions-, Druckerei- und Verlagsgebäude an der Siemensstraße 11 hatte ich nur einmal zuvor betreten. Es war der Tag, an dem ich mich bei meinem künftigen Chefredakteur vorgestellt hatte. Richard Retter blieb bis zu seinem Lebensende mein Freund.

An meinem ersten Arbeitstag in der Redaktion fielen mir zwei Dinge auf: Fast Jeder rauchte (ich auch). Und: Es standen unzählige Flaschen Wein und Bier auf den diversen Schreibtischen (auf meinem – noch – nicht).

Auch auf dem Arbeitsplatz, der mir zugeteilt worden war, saß ein schlacksiger Mann und rauchte. Er begrüßte mich zwischen zwei hektischen Zügen und breitete Dutzende von Papierfotos vor uns auf. „Welches würdest du nehmen“?, fragte er mich. „Das hier“, sagte ich und tippte mit dem Finger auf ein Bild, das mehrere Männer und Frauen zeigte, die Transparente zum „Tag der Arbeit“ vor sich hertrugen. Der Fotograf stimmte mir zu. Er hieß Dieter.  An seinen Nachnamen kann ich mich nicht mehr erinnern.

Unter Anleitung des diensthabendenden Sonntagsredakteurs tippte ich auf der schweren Schreibmaschine eine mehrzeilige Bildunterschrift unter das Foto und setzte dahinter in Klammern „heb“. Das war von jetzt an mein Autoren-Kürzel. Ich hatte „hebo“ vorgeschlagen, so hatten mich meine Kumpels in Biberach genannt. Aber „hebo“ ging nicht. Erlaubt waren höchstens drei Buchstaben. Dann also „heb“.

Fünf Jahre blieb ich bei der Waiblinger Kreiszeitung, die ihren Mantelteil von den Stuttgarter Nachrichten bezog. Dann verschlug es mich zum erstenmal nach Kanada. Fünf Jahre „heb“ waren genug, um den Journalismus von der Pike auf zu lernen. Ich musste über Mord und Totschlag berichten, über Sexualverbrechen und Oberbürgermeisterwahlen. Ich war bei Gemeinderatssitzungen eingenickt, bei denen es um Farbleitpläne für städtische Garagen ging. Und auch eine Reportage über die „Waiblinger Hausfrau des Jahres“ wurde von mir verlangt. Alice Schwarzer hätte mir den Kopf abgerissen.

Fünfzig Jahre später sitze ich mit zwei Frauen und zwei Männern an einem Wirtshaustisch in Weinstadt im Remstal. Es sind Kolleginnen und Kollegen aus alten Zeiten. Uschi und Ingrid kamen erst später zur Zeitung. Uli und Oskar waren fast von Anfang an dabei.

Uschi Entenmann leitet heute die Reportagenagentur „Zeitenspiegel“, schreibt für fast alle namhaften Publikationen, einschließlich GEO. In Havanna baute sie die kubanische Niederlassung der Agentur auf und lebte mehrere Jahre auf der Karibikinsel. Wenn sie nicht gerade schreibt, managed oder reist, spielt sie Saxophon in einer Jazzband.

Ingrid Eißele, ebenfalls eine erfahrene Journalistin mit weltweiten Reporter-Einsätzen, leitet heute das „stern“-Büro für Baden-Württemberg. Eine wunderbare Kollegin mit einfühlsamen Texten und klugen Interviews, die in vielen renommierten Publikationen erschienen sind.

Oskar Beck ist eine der Edelfedern im deutschen Sportjournalismus. Seine Reisen haben ihn rund um den Globus geführt. Er hat über Olymische Spiele, Weltmeisterschaften und andere Events berichtet und lebt heute auf der Schwäbischen Alb und in Miami/Florida. Die nächste Fußball-WM in Russland wird ohne „Ocke“ stattfinden: „Wo Putin ist, gehe ich nicht hin“. Einmal Revoluzzer, immer Revoluzzer.

Uli Reinhardt hat nach seiner Zeit als Fotograf bei der Waiblinger Kreiszeitung zusammen mit anderen mutigen Kreativen die feine Reportage-Agentur Zeitenspiegel gegründet. Inzwischen gehört eine hauseigene Journalistenschule dazu.

Uli erwähnte bei unserem Wirtshaustreff in Wenstadt eher nebenbei, als müsste er kurz mal Brezeln holen, dass er morgen eine dreiwöchige Reporterreise durch Südafrika, Kenia und Nigeria antreten werde. Der Mann ist über 70, sein Energiepegel noch immer enorm. Auch ein Autounfall, bei dem er sich vor ein paar Monaten eine schwere Rückenverletzung zugezogen hatte, schaffte es nicht, ihn auszubremsen. Der Unfall passierte übrgens in Irland. Genau dort war ich mit Uli, kurz nach unserem Kennenlernen vor 50 Jahren, wochenlang unterwegs.

Gestandene Journalisten, die eines gemeinsam haben: Die Zeit bei der Waiblinger Kreiszeitung. Der Wichtigste fehlte leider in unserer Runde: Richard Retter, dem alle von uns so viel zu verdanken haben.

Felix – eine schöne Geschichte

GALLERY

Es gibt da diese Geschichte von Cassian und Felix: Als unser Sohn in die Montrealer Waldorfschule kam und sich unter all denen, die da ihren Namen tanzen konnten, etwas verloren fühlte, stand plötzlich dieser kleine Junge mit stahlblauen Augen und pechschwarzem Haar neben ihm und nahm ihn bei der Hand. Es war Felix Bujold. Heute, 20 Jahre später, gehört er zu den erfolgreichsten Fotomodellen der Welt.

„Komm mit“, sagte der Bub auf Französisch „ich stell’ dir meine Freunde vor“. Wenn Cassian heute die Zeit an der Montrealer „École Rudolf Steiner“ als „die schönste meines Lebens“ bezeichnet, hat das viel mit dem kleinen Jungen von damals zu tun. Mit Felix Bujold.

Cassian und Felix: Einmal Freunde – Immer Freunde

So unterschiedlich ihre beiden Leben auch verlaufen sind – der Kontakt zwischen Felix und Cassian ist nie abgerissen. Heute, ausgerechnet am kältesten Tag des Jahres, stattete uns der Bub von damals, der inzwischen in der ganzen Welt zuhause ist, einen Besuch ab.

Circa 2000; Felix (links) und Cassian. Foto: Privat

Die Haut vom letzten Fotoshooting in Bora Bora ist noch leicht gebräunt. Viel Zeit kann Felix diesmal nicht in Montreal verbringen. Er muss zum Shooting nach New York. Dort hat er seinen Lebensmittelpunkt.

Seine Wohnung in Montreal sieht er nur selten. Das Apartment in Los Angeles hat er kürzlich aufgegeben. Dafür verbringt er jetzt mehr Zeit in den Catskill-Mountains, nördlich von New York City. Dort besitzt er ein großes Grundstück, hackt Feuerholz, geht wandern und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein. Bis vor kurzem verbrachte er dort noch viel Zeit mit seiner Partnerin, einem brasilianischen Model, und ihrem Sohn. Eine Zweierbeziehung zwischen zwei globetrottenden Fotomodellen ist nicht immer ganz einfach.

Heute kommt Felix zur Tür rein, bewundert mit seinen immer noch strahlenden blauen Augen Lores Aquarelle an der großen Wand, kann sich noch an jedes einzelne von ihnen erinnern, damals in Hudson, als wir noch auf dem Land wohnten und Felix ein gern gesehener Gast bei uns war. An noch etwas erinnert sich Felix: „Cassian, Felix – Frühstück!“, hätten wir immer gerufen, sagt er. Damals, als er noch häufig die Wochenenden bei uns verbrachte.

Felix im O-Ton: „Guten Morgen, Frühstück ist fertig!“

Aber wie um Himmels Willen wird ein Waldorfschüler zum Model?

Angefangen hatte alles auf einem Parkplatz in Salt Lake City/Utah. Felix war damals mit seiner Patchwork-Familie auf einem Roadtrip quer durch Amerika unterwegs. „Auf einem Parkplatz kam eine Frau auf uns zu, die sich als Model-Agentin ausgab“, erinnert sich Felix. Ob er sie morgen in ihrem Büro aufsuchen könne, habe die Agentin seine Muter gefragt. Nein, konnte er nicht. Die Familie wollte weiter, nach Kalifornien. Aber eine Visitenkarte ließ sich Felix’ Mutter von der Frau auf dem Parkplatz dann doch geben.

„Irgendwie waren wir da angefixt“, erzählt mir Felix heute Nachmittag. Wenn er lacht – und er lacht oft -, strahlen seine Zähne so weiß wie die fetten Schneeflocken, die sanft vom Himmel fallen.

Als die Familie Wochen spaäter von ihrem Roadtrip wieder zu Hause ankam, in Montreal,  habe die Schwester eine befreundete Hobbyfotografin eingeladen. Und gleich eine Kosmetikerin dazu. Die drei Mädels bearbeiteten den jungen Felix so lange, bis ein paar passable Fotos dabei herauskamen.

Mit vierzehn fing alles an

Felix war 14. Und der Rest ist Geschichte. Die Fotos gingen an verschiedene Model-Agenturen. Schon kurze Zeit später klingelte das Telefon. Casting hier, Casting dort. Und schon bald kamen die ersten Aufträge. Nichts Großes. Da ein Katalog-Foto, dort eine Modenschau.

Den ersten fetten Modelling-Job landete Felix, als er 17 war. „Um 15 Uhr war ich mit meiner Abschlussprüfung am College fertig. Um 17 Uhr musste ich zu einem Casting. Um 21 Uhr saß ich im Flieger nach Mailand“. Mutter Céline war dabei. „Sie wollte wissen, worauf ich mich da eingelassen hatte“.

Besuch bei den Bopps: Felix heute Nachmittag auf der Dachterrasse. Foto: Bopp

Von da an flossen die Aufträge. Immer aufwendiger, immer weiter, immer größer. Auch immer mehr Geld. Kosmetik-Werbung in Südafrika, Herrenbekleidung in Tokio, Schuhe in Italien. Schokolade in Frankreich. So ging es rund um die Welt. Er jettete jetzt von New York nach Hongkong und von da nach Neuseeland, London, Paris, Hamburg, Berlin. Und immer wieder Mailand. Jahr für Jahr. Für „4711“ stand er in Kapstadt vor der Kamera. Das Produkt sollte „Wunderwasser“ heißen. Felix weiß nicht, ob etwas daraus geworden ist.

Als sehr junges Model hatte er seine größten Erfolge in Europa. „Damals waren da große, feingliedrige Männer gefragt“. In Nordamerika sei es genau umgekehrt gewesen. „Die wollten eher den Holzfällertypen“.

Heute ist Felix Bujold beides. Der trotz seiner 30 Jahre immer noch jugendlich wirkende, hoch gewachsene Sunnyboy. Und im richtigen Leben der Lumberjack, der so viel Zeit wie möglich auf seinem Stück Land in den Catskill-Mountains verbringt.

New York – Tokio – Kapstadt – Paris …

Er modelt noch immer gerne, auch 16 Jahre nach seinem ersten Shooting. Die Welt ist inzwischen seine Auster. Er kennt sich in Paris so gut aus wie in New York, Tokio oder Kapstadt. Er verdient viel Geld. Aber er bringt auch die eiserne Disziplin des Erfolgsmenschen auf, trainiert seine Sixpacks, achtet auf gesunde Ernährung.

Wer für das „Men’s Health“–Cover posiert, darf kein Fett ansetzen. In Kuba hatte er neulich ein Fotoshoting für GQ. In Italien lichtete ihn VOGUE ab. ELLE, Esquire, Equinox – Felix Bujold wurde schon von allen großen Magazinen gedruckt. Sein Gänsehaut-Moment? „Das war, als ich mich riesengroß auf einem Leuchtreklame-Billboard am Times Square entdeckte“.

Erfolg verpflichtet. Alkohol trinkt er in Maßen. „Wenn bei einem Shooting am anderen Ende der Welt 20 Leute stehen, die nur wegen dir hierher geflogen sind – Fotografen, Beleuchter, Kosmetikerinnen, Stylisten -, dann kommst du nicht verkatert zur Arbeit“, sagt Felix. Das gebiete schon der Respekt, den er für all die anderen Profis in seinem Job habe.

Den „Plan B“ gibt’s auch schon: Felix will aufs Land

Felix weiß, das Modelling ein Job auf Abruf ist. Klar gibt es auch ältere Fotomodelle. Aber will er das? „Eher nicht“, sagt er. Irgendwann sei genug. Zum richtigen Zeitpunkt den Absprung schaffen, das sei wichtig. Nur: Wann ist der richtige Zeitpunkt?

Einen Plan B für die Zeit danach hat er jedenfalls schon. Er hat ja dieses Stück Land bei New York. Und ein noch schönerer Flecken Erde gehört ihm am Lago Maggiore. „Cabins“ will er darauf bauen, einfache Cottages aus Holz. Die will er später vermieten. An Leute, die in der Hektik des Alltags zwischendurch mal tief durchatmen wollen.

So wie er. Felix, der Bub von der Waldorfschule, der es zum weltberühmten Fotomodell gebracht hat.

Felix Bujolds Facebook-Profil: Die Welt ist seine Auster.

Mit Mike und Kate durch Montreal

Montreal Memories: Mike Fox mit seiner Frau Kate Rew.

Als ich Michael Fox im Herbst 2001 kennenlernte, fielen mir zunächst seine riesigen Schuhe auf. Größe 49. Manchmal, sagte er, nehme er auch Größe 50. Ich kannte bis dahin keinen, der auf so großem Fuß lebte. Einen körperlich so imposanten Menschen wie ihn vergisst man nicht mehr. Erst recht nicht, wenn einen ein Terroranschlag in New York zusammenschweißt. Jetzt besuchte uns Mike Fox zusammen mit seiner Frau Kate Rew in Montreal.

Unmittelbar nachdem Terroristen am 11. September 2001 in New York zwei Wolkenkratzer gefällt hatten, waren Mike und ich vor Ort. Er berichtete für die British Broadcasting Corporation (BBC) über 9/11, ich schrieb für die Internetredaktion des WDR das „NEW YORKER TAGEBUCH“ .

Beide arbeiteten wir zu jener Zeit von Montreal aus als Korrespondenten. Weil der Luftraum über Nordamerika jedoch kurz nach den Terrorangriffen für den Flugverkehr geschlossen wurde, machten wir uns auf dem Landweg von Montreal nach New York. Mike wählte den Mietwagen, ich die Bahn.

In Manhattan trafen wir uns wieder und bildeten während der kommenden zehn Tage ein Reporterteam. Im Tandem ließ sich das Leid besser ertragen, mit dem wir Tag für Tag, Nacht für Nacht konfrontiert wurden. Den achtstündigen Rückweg von NYC nach Montreal traten wir gemeinsam an. Diesmal im Auto. In stundenlangen Gesprächen versuchten wir das Unfassbare aufzuarbeiten, das wir gerade erlebt hatten.

Seit diesen denkwürdigen Tagen in New York haben wir uns immer wieder gesehen – auch dann noch als Michael Fox längst wieder im BBC-Mutterhaus arbeitete. Wir trafen uns in Kanada, in England und auf Mallorca. In London gab mir Mike unvergessliche Einblicke in seine Stadt, die nur einer geben kann, der in London geboren wurde.

Reporter unter sich: 2016 auf Mallorca.

Auf Mallorca dann die Rollenverteilung. Diesmal durften Lore und ich ihm „unsere“ Insel zeigen, die für uns seit neun Jahren Winterquartier ist. Doch auch auf Mallorca war Michael kein Tourist wie jeder andere. Er mietete sich ein Rennrad, trat mit seinen großen Füßen in die Pedale und erkundete die Insel bei Wind und Wetter.

Das jüngste Wiedersehen in Montreal fand unter den schönsten aller Voraussetzungen statt. Strahlender Sonnenschein, 24 Grad. Gute Laune und weit und breit kein Terroranschlag. Perfekt für eine rund 18 Kilometer lange Stadtwanderung, die wieder einmal bei der Vietnamesin unseres Herzens ein kulinarisches Ende fand.

Gestern auf der Jacques-Cartier-Brücke: Mike und Kate.

Lore und ich haben diese Strecke schon häufig zurück gelegt. Doch diesmal war nicht nur Michael dabei, sondern auch dessen Frau Kate Rew. Eine beeindruckende Persönlichkeit mit einer eigenen Geschichte, die diesen Blogpost sprengen würde. Nur so viel: Mit einem Pariser Sorbonne-Studium in der Tasche arbeitete sie für den British Council in Moskau. Der Präsident hieß damals Boris Jelzin.

Seit unserer ersten Begegnung vor 16 Jahren hat sich das Leben von Mike und Kate grundlegend geändert. Die beiden Jungs Oscar und Barney sind jetzt erwachsen. Kate und Mike haben sich, könnte man sagen, noch einmal neu erfunden.

Mike, ein brillanter Radioprofi in Festanstellung beim wohl renommiertesten Sender der Welt, hat sich mit Mitte 50 von der BBC und damit vom Journalismus verabschiedet. Zusammen mit Kate legte er sich in der englischen Kleinstadt Crewkerne/Somerset ein stillgelegtes Fabrikanwesen zu, eine Art Dorf im Dorf – mit Bäckerei, Klavier- und Orgellehrer und allem, was sonst noch zu so einem Dorfleben gehört. Die Beiden haben das Anwesen mithilfe von Handwerkern aus dem Ort in jahrelanger Arbeit selbst umgebaut.

Auf großem Fuß: Schuhgröße 49 bis 50.

Ein Leben so ganz ohne Journalismus für einen, der mit Leib und Seele Reporter war – geht das überhaupt? Doch, schon, sagt Mike. Aber der Wechsel vom Wortschmied zum Handwerker verlief nicht immer ganz geschmeidig. Es zieht ihn zurück zur Schreibe.

Ein eigener Blog, das wär’s. Oder ein Buchprojekt. Das Thema „Radfahren ohne Gangschaltung“ interessiert ihn sehr.

Ob mit oder ohne Gang – bei einem wie Michael Fox wäre das Lesevergnügen garantiert.