Irgendwo im Montrealer Villenviertel Westmount setzt sie sich neben mich auf eine Bank, zündet eine duMaurier an, inhaliert tief und bläst den Rauch genüsslich in die Novembersonne. „Stört es dich?“, fragt sie. “Nicht die Bohne“. Sie heisse übrigens Reina, “das ist spanisch für Königin“. Eine fürstliche Begegnung, wie sich eine Stunde später herausstellen sollte.
Reina ist 80 und wartet auf ihren Chauffeur. Eigentlich wartet sie auf ein Taxi. Aber Chauffeur klingt irgendwie besser als Taxifahrer, hier in Westmount. 125 Dollar bezahle sie ihrem Chauffeur, also dem Taxifahrer, jeden Tag. „Hundert fürs Fahren und 25 Dollar Tipp“. Jeden Tag. Dafür stehe er ihr immer zur Verfügung und fahre sie, wohin sie gerade wolle.
Heute war es der Orthopäde. Und schon sind wir beim Thema.
2016 sei ein verdammtes Scheißjahr, sagt die Königin. Am Tag, an dem sie mit dem Rauchen aufhören wollte, fällt sie vom Hocker und bricht sich die Hüfte. Im Krankenhaus habe sie heimlich gequalmt und wäre deshalb fast rausgeflogen. „Aber ich hör‘ doch nicht mit dem Rauchen auf, wenn ich mir gerade die Hüfte gebrochen habe!“
Verständlich, das Ganze.
Kaum war sie aus dem Krankenhaus raus, wird ihre Wohnung in der Seniorenresidenz ausgeraubt. „Alles weg: Schmuck, Bargeld, Bilder, Schallplatten“. Verdammtes Scheißjahr eben.
Aber das war nicht alles. Kurz darauf starb ihre Mutter. Sie wurde 102. Wenig später ihre Lieblingsnichte. Sie wurde nur 38. Scheißjahr.
Nach dem Einbruch in der Seniorenresidenz fühlt sie sich dort nicht mehr sicher, zieht um in eine andere Wohnanlage. Und findet es dort „einfach Scheiße“. Wie das Jahr 2016 eben. „Shit“, sagt sie. Klingt aus dem Mund einer kanadischen Königin weniger fäkal als „Scheiße“.
Keiner grüßt den anderen und alle meckern nur über das Essen. Morgens, mittags, abends. Jetzt zieht sie wieder um. Nicht, weil sie das Essen schlecht findet. Die Leute gehen ihr auf den Zünder. „Muss ich mir mit 80 noch den ganzen Tag dieses Scheißgejammer antun“? Natürlich nicht.
„Tolle Schuhe!“. Jetzt wirft Reina einen Blick auf meine schwarzen Wildlederboots. „Schuhe haben mein Leben bestimmt“, sagt sie, „wusstest du das“? Nein, Reina, wusste ich nicht. Aber du wirst es mir sagen.
Als sie 17 war, stand sie in einem Montrealer Schuhgeschäft und tat das, was Mädchen so tun, wenn sie 17 sind. Sie probierte ein Paar Schuhe nach dem anderen an, spazierte im Laden auf und ab und konnte sich einfach nicht entscheiden. „Du hast das Zeug zum Model“, sagte plötzlich eine Frau, die Reina beim Schuhe anprobieren beobachtet hatte.
Die Frau war Talentscout für eine Modelagentur, der Rest ist Geschichte.
Jahrzehntelang modelte sich Reina jetzt durch die Welt, lebte in Japan, New York und auch in Mexico-City, hatte Gigs in Mailand, Rom und Paris, Berlin und Wien. Und lernte irgendwann einen Airline-Piloten kennen, der in Santa Monica wohnte. Sie zog zu ihm und modelte von jetzt an eben nicht mehr von Kanada aus, sondern von Kalifornien. 25 Jahre lang.
Dann starb Jacques, der Pilot. Reina verkaufte das Haus an der Küste und zog nach Kanada zurück. Neulich stand sie noch einmal als Model vor der Kamera. Da war sie 79. Ein Kosmetiksalon ließ sie für ein Plakat ablichten. Sie zieht einen zerknitterten Hochglanzprospekt aus ihrer Handtasche. Der Beweis.
Jetzt wohnt sie also wieder in Montreal, schiebt sich mit der Gehhilfe durch die Straßen von Westmount, zündet sich noch eine duMaurier an und wartet auf ihren Chauffeur, der eigentlich Taxifahrer ist.
Als er kommt, erhebt sich die Königin von ihrem Thron, der eigentlich eine Stadtbank ist, begrüßt den Fahrer mit Bussi links und rechts und wirft mir beim Einsteigen noch einen Luftkuss zu.
„Echt schöne Schuhe hast du“, sagt sie noch. Und weg ist sie, meine Königin für eine Stunde.
Eine zauberhafte Begegnung, wie sie eigentlich nur in einer Boheme Metropole wie Montreal passieren kann. Vielen Dank, Herbert.
Glaubst du wirklich? Ich denke eher, dass Gespräche wie diese auch in Wermelskirchen oder Valleyfield möglich wären. Manchmal genügt es schon, sich Zeit zum Zuhören zu nehmen. Aber du hast natürlich recht: In einer Metropole wie Montreal ist die Bohemien-Dichte höher als in kleineren Städten. Danke für deinen Kommentar und beste Grüße aus St. Henri.
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Eine wirklich ‚königliche‘ Geschichte! DANKE! Der investigative Reporter bei der Arbeit. Viel zum Sinnieren und Reflektieren. Zufall? Gerade an dem Tag parkte ich nämlich unter der Plaza de La Reina. Lief dann den Paseo Del Borne hin zur Plaza del Rey. Dort, mit netter Begleitung, verköstigten wir uns im Café Bosch mit leckeren Tapas. Wissend, dass es eine deiner Lieblingsanlaufstellen ist, nahm ich auch eine Besichtigung der Umbauten vor (Keramik-Besichtigung), habe aber auch nicht vergessen, dem Stadtwappen von Palma (auf dem Obelisk) zu verkünden, dass ihr praktisch schon in den Hufen steht, um es wieder zu besuchen. Ich glaubte einen leichten Flügelschlag der Freude an der Fledermaus zu erkennen (oder lag das an meiner geschwächten Sehkraft?) Gern würde ich jetzt das passende Bild dazu einfügen, weiss aber leider nicht wie.) Herzliche Grüße von eurem ‚analog man im cyber space‘.
R…🌴
Lieber „analog man im cyber space“: Danke für diese freundlichen Zeilen. In der Tat ist es zurzeit nicht möglich, Bilder in das Kommentarfenster einzustellen. Grüße an die Fledermaus – und natürlich an die Bar Bosch!
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Eine wundervolle Geschichte! Erzählt mit einem Blick voller Wärme und Augenzwinkern. Ich hätte wirklich gerne mit euch auf der Bank gesessen.
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herrlich…., ich möchte auch eine „duMaurier“ rauchen und ICH sein…. Kompliment para la reina…. :-)
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