Alter Hase oder junger Hüpfer?

© MONTREAL GAZETTE

Montreal wählt am 5. November einen neuen Oberbürgermeister. Es könnte aber auch eine Oberbürgermeisterin werden. Neben dem mit allen Wassern gewaschenen Amtsinhaber Denis Coderre kandidiert auch eine junge Frau namens Valérie Plante. Was nun: Mann oder Frau? Alter Hase oder junger Hüpfer? Leider brachte auch die gestrige Debatte der beiden Kandidaten nicht die erhoffte Eingebung.

Ich werde das Gefühl nicht los, als wolle das Jahr 2017 meine Entscheidungsfähigkeit testen. Schon bei der Bundestagswahl im September kam ich bei der Ausübung meines (Brief-)Wahlprivilegs an meine Grenzen. Und jetzt, kurz vor der OB-Wahl in eineinhalb Wochen, übermannt mich erneut dieses Gefühl einer demokratischen Ohnmacht.

Mag das Rampenlicht: Denis Coderre.

Denis Coderre ist ein sympathischer Typ. Ein kompakt geratener Mann, der mit seinen 54 Jahren mit allen politischen Wassern gewaschen ist. Er gilt als unermüdlicher Macher und fleißiger Networker. Als einer, der nicht müde wird, auch Ministerpräsidenten und Staatschefs in die Pflicht zu nehmen, wenn es darum geht, Subventionskohle in seine Stadt zu scheffeln.

Seit vier Jahren ist er im Amt. Offiziell parteilos, aber bis zu seiner kommunalpolitischen Karriere saß er für die Liberalen als Bundesminister in Ottawa. Er ist der Mann, der polarisiert.

Man liebt ihn, weil er die zweitgrößte Stadt Kanadas in genialer Weise als Metropolis vermarktet.

Man hasst ihn, weil er sich ein Denkmal nach dem anderen setzt und die Stadt durch irrsinnig viele Baumaßnahmen in ein nie dagewesenes Verkehrschaos stürzte.

Eine 40 Millionen Dollar teure Beleuchtung für die eigentlich sanierungsbedürftige Jacques-Cartier-Brücke? No problem! Oder 3,5 Millionen Dollar teure Baumstümpfe aus Marmor, die so spektakulär unauffällig in eine Waldlandschaft geworfen wurden, dass man sie mit der Lupe suchen muss? Pourquoi pas?

Ob Kunst am Bau oder Kunst am Baum – bei Denis Coderre darf’s gerne ein bisschen teurer sein.

Frisch und fröhlich: Valérie Plante.

Anders bei Valérie Plante. Sie ist mit ihren 43 Jahren zumindest in politischer Hinsicht ein junger Hüpfer. Als Nachrückerin kam sie erst vor einem Jahr völlig überraschend ins Stadtparlament. Dort leistete sie bisher eine fabelhafte Arbeit in der Opposition. Ihr Ding waren bis vor kurzem noch unterprivilegierte Kinder, obdachlose Ureinwohner und geschlagene Frauen. Kein Zweifel: Valérie Plante ist ein guter Mensch. Und kein bisschen weniger sympathisch als ihr Gegenspieler. Aber hat sie das Zeug zur Oberbürgermeisterin einer kunterbunt-chaotischen Millionenstadt wie Montreal? .

Die Debatte gestern Abend war unerwartet spannend. Weniger wegen der angesprochenen Themen. (Die meisten von ihnen waren durchgekaut worden, noch ehe der Wahlkampf eröffnet wurde). Was mich verblüfft hat, war die – für kanadische Verhältnisse – ungewöhnliche Streitkultur, die Coderre und Plante an den Tag legten. In der voll besetzten Oscar Peterson Concert Hall der Concordia University flogen eineinhalb Stunden lang die Fetzen.

Braucht ein Oberbürgermeister wirklich drei Chauffeure, die ihn Tag und Nacht durch das von ihm verursachte Baustellen-Labyrinth der Stadt jonglieren? Oder tut es auch ein Elektroauto, das Valérie Plante für wenig Geld notfalls selbst steuern würde? „Be careful what you wish for“, strapazierte der gewiefte Amtsinhaber eine Metapher, die nichts anderes bedeutet als: „Leider blickst du gar nichts“.

Dass trotz der hitzigen Debatte ein fast liebenswürdiger Umgang miteinander herrschte, mag auch an der Sprache liegen. Gestern wurde ausschlieslich Englisch gesprochen. Sowohl Denis Coderre als auch Valérie Plante sind jedoch Frankokanadier. Die auf Französisch geführte Debatte vor einer Woche verlief vielleicht allein schon deshalb ziemlich unspektakulär.

Vor einem Konzertsaal voll mit Anglokanadiern gelten andere Spielregeln mit anderen sprachlichen Herausforderungen. Beide Kandidaten haben sie mit Bravour gemeistert.

Mir scheint: Egal, wer am 5. November das Rennen macht – die Stadt meines Herzens wird von einem feinen Menschen regiert.

Ein Gedanke zu „Alter Hase oder junger Hüpfer?

  1. Ich erlebe, daß die WählerInnen in allen demokratischen Staaten das gleiche Problem haben. Wo Grundsätzliches weitgehend durch die Verfassung geklärt ist, geht es lediglich noch um die erlaubten Gewichtungen.
    Konkret: Die Vorentscheidung lautet: Mensch oder Bauwerk; in Deutschland Investoren und „Reiche“ oder Menschen der reichlichen, aber nicht bevorzugten Bevölkerungsgruppen, also Mittel- und Verarmungsbürger-Schicht = CDU /SPD. Die ersteren wollen verantwortungsvolle Entfaltung und danach etwas für die weniger Bevorzugten tun, die zweiten setzen die Benachteiligten und das gesellschftliche Wohl in den Fokus und setzen voraus, daß die Anderen sich schon selbst helfen werden.
    Meine Wählweise bei völliger Entscheidungslosigkeit entspricht unseren skandinavischen Nachbarn: Alle 4, spätestens 8 Jahre kommt die jeweils andere Partei an die Macht, das verhindert Verkrustungen und bequeme „Sitzungen“ und hlft gesellschaftlich mal der einen und mal der anderen Gruppe.
    Wenn Euer OB wirklich nicht mehr für die gesamte Stadtbevölkerung zustande gebracht hat als das Verkehrs-Chaos, in Deinen Augen Montreal nicht unbedingt und immer First Lady sein muß, um lebenswert für alle zu sein, fiele mir die Wahl nicht schwer.
    In diesem Sinne: Fröhliches Wählen! Imerhin braucht Ihr keine Koalition abzuwarten, Ihr Glücklichen!

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