
Der Barbier von Hochelaga. © Alle Fotos: Bopp
Wer einen Freitagabend im Montrealer Stadtteil Hochelaga verbringt, braucht schon einen Grund. Preise für geglückte Städteplanung wird das „Quartier“ tief im Osten der Stadt wohl genau so wenig einheimsen wie Sterne für kulinarische Höchstleistungen der Restaurants. Von ihnen scheint es in Hochelaga noch weniger zu geben als Papierkörbe. Und das will etwas heißen.
Warum dann die zehn U-Bahn-Stationen von St. Henri nach Hochelaga auf sich nehmen? Zum Beispiel, weil dort Julian und Meriem wohnen. Zwei Zugezogene die noch dabei sind, in Montreal richtig Fuß zu fassen.
Meriem stammt aus Tunis und forscht als Wissenschaftlerin an der Früherkennung von Gehirntumoren. Julian kommt aus Saarbrücken. Als freier Journalist beliefert er deutschsprachige Medien mit Korrespondenten-Beiträgen.
Beide sind um die 30. Montreal haben sie sich ausgesucht, weil es sich hier gut forschen, leben und arbeiten lässt. In den Stadtteil Hochelaga hat es sie eher zufällig verschlagen. Vielleicht haben auch die vergleichsweise niedrigen Mietpreise eine Rolle gespielt.
Wer in Hochelaga lebt, spielt zwar nicht in der Porsche-Liga. Doch die Gegend hat auch ihren Reiz. Die Mischung aus geerdeten Quebecern und hippen Zugezogenen verleiht Hochelaga eine urbane Coolness. Vor allem unter der U40-Generation ist Hochelaga wegen der Nähe zur Innenstadt eine gefragte Location. Nicht ohne Folgen: Die demografische Zusammensetzung schafft, wie in einigen anderen Montrealer Stadtteilen auch, Konflikte. Der Begriff „Gentrification“ ist zum Reizwort für alles geworden, was man sich gerne leisten würde, aber nicht kann.
Wenn man erst einmal die Eingeweide der Stadt hinter sich gelassen hat, um die Metro-Station Frontenac mit der Rolltreppe zu verlassen, sieht man als erstes „einen Polen“. Ich meine das nicht despektierlich, aber ich weiss nicht, wie ich es sonst formulieren könnte. Es ist kein Restaurant und auch keine Backstube. Für einen Feinkostladen fehlt ihm der Schliff. Die Perogies, die „der Pole“ an der Ecke anbietet, sind lecker. Ich kenne sie von früheren Besuchen.
Überhaupt ist mir Hochelaga ziemlich vertraut. Als unsere Freundin Marjolaine im Herbst 2011 Wahlkampf für die links-soziale NDP machte, klebten wir nächtelang Plakate für sie. Ihr Wahlbezirk ist Hochelaga. Nicht nur hat sie damals den Einzug ins Bundesparlament geschafft. Sie ist vier Jahre später auch mit Glanz und Gloria wiedergewählt worden. Bodenständigkeit und Fleiß werden in Hochelaga belohnt.
Hat man „den Polen“ beim U-Bahnhof erst einmal hinter sich gelassen, geht es zu Fuß in Richtung Westen. Während in der Montrealer Innenstadt um diese Zeit der Bär tanzt, scheint er in Hochelaga in einen verfrühten Winterschlaf verfallen zu sein. Tote Hose so weit das Auge reicht.
Doch dann plärrt dir plötzlich Reggaemusik entgegen. Klar, dass dich in diesem Augenblick nichts brennender interessiert als die Frage: Wo steckt Bob Marley?
Er steckt nicht, er hängt. Und zwar ziemlich genau eine Kopflänge über dem Schädel, den ein Kerl im Reggaelook gerade barbiert als gelte es Udo Walz Konkurrenz zu machen.
„Darf ich reinkommen“? Man will ja nicht stören. „Have a seat, man“, sagt der Kerl.
Aber ich will nicht sitzen und ohnehin eignet sich mein Haupthaar nicht für Dreadlocks. „Darf ich fotografieren“?, frage ich den Reggaeman. „Shoot!“, sagt der. Und richtet die linke Hand in Pistolenposition auf mich, während die Rechte weiterhin Udo Walz spielt. Ich zücke mein Handy und schieße zurück.
Was macht man, wenn man eine halbe Stunde zu früh für die Essenseinladung vor dem Haus der Gastgeber steht? Man geht einfach weiter. Durch Wohnstraßen, in denen die Fenster verbarrikadiert sind, vorbei an zugenagelten Geschäftsräumen, in denen das „à louer“-Schild an bessere Zeiten erinnert. Gute Nacht, Hochelaga.

„Bistro sur la Rivière“ – auch ohne Bach ein hübscher Platz.
Und dann, als es schon fast Zeit für den Dinnerbesuch ist, baut sich vor dir ein herrlich verträumtes Bistro auf, mit dem wunderschönen Namen „Bistro sur la Rivière“. Wen stört’s, dass es an dieser Ecke weit und breit keinen Bach gibt, der den Namensgeber inspiriert haben könnte.
Die Speisekarte liest sich lecker. Jetzt meldet sich auch schon der 19-Uhr-Hunger. Gleich wird Julian eine herrliche Gemüsesuppe servieren, deren Namen ich vergessen habe. Und Meriem, die Vegetarierin, kredenzt ein Couscous ähnliches tunesisches Pasta-Gericht mit Gemüse, dazu selbst gebackenes Brot und Hühnchenbrust für die beiden Fleischesser am Tisch.

Nwasser: Lecker – ob mit oder ohne Fleisch.
Man isst und redet, trinkt Kombucha und Wein, isst weiter und hätte an diesem Abend vermutlich sämtliche Probleme der Welt durch reden aus der Welt geschaffen, wäre da nicht die letzte U-Bahn, die einen zurück nach St. Henri bringt.
Übrigens wurde Hochelaga von den Irokesen gegründet. Als der Entdecker Kanadas, der Franzose Jacques Cartier, 1535 dort anlegte, um den Indianern als erster Europäer einen Besuch abzustatten, schüttelte er die Hände der Ureinwohner. Das fanden sie lustig und nannten sich künftig Hochelaga.
Es bedeutet „Menschen, die Hände schütteln“.
Sehr schöne Geschichte aus dem Leben! Da fühlt man sich direkt wie mittendrin.
Ich muss auch noch einmal nach Montreal 😁
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