
VOR 50 JAHREN FING ALLES AN: Von links nach rechts: Oskar Beck, Uschi Entenmann, Uli Reinhardt, Herbert Bopp, Ingrid Eißele.
Der 1. Mai 1968 war ein Mittwoch. Über den Weinbergen des Remstals ging ein warmer Frühlingsregen nieder. Der Fußweg von meinem möblierten Zimmer zur Redaktion der Waiblinger Kreiszeitung dauerte eine halbe Stunde und führte an der Bahnhofswirtschaft vorbei.
Männer mit lustigen Hüten tranken auf nassen Holzbänken ihr Viertele. Ich tippte lässig mit der rechten Hand an meine karierte Schlägermütze. Die Männer grumselten irgend etwas von „Wo kommt der denn her?“ und ich ging meines Wegs, schnurstracks in die Zukunft.
So begann der Tag, an dem sich der Traum meines Lebens erfüllt hatte. Es war der Tag, an dem ich Journalist geworden bin. Das heißt: Noch war ich Redaktionsvolontär, damit fängt jede ordentliche journalistische Ausbildung an.
Mein Volontariat begann am 1. Mai 1968 in Waiblingen im Remstal.
Das moderne Redaktions-, Druckerei- und Verlagsgebäude an der Siemensstraße 11 hatte ich nur einmal zuvor betreten. Es war der Tag, an dem ich mich bei meinem künftigen Chefredakteur vorgestellt hatte. Richard Retter blieb bis zu seinem Lebensende mein Freund.
An meinem ersten Arbeitstag in der Redaktion fielen mir zwei Dinge auf: Fast Jeder rauchte (ich auch). Und: Es standen unzählige Flaschen Wein und Bier auf den diversen Schreibtischen (auf meinem – noch – nicht).
Auch auf dem Arbeitsplatz, der mir zugeteilt worden war, saß ein schlacksiger Mann und rauchte. Er begrüßte mich zwischen zwei hektischen Zügen und breitete Dutzende von Papierfotos vor uns auf. „Welches würdest du nehmen“?, fragte er mich. „Das hier“, sagte ich und tippte mit dem Finger auf ein Bild, das mehrere Männer und Frauen zeigte, die Transparente zum „Tag der Arbeit“ vor sich hertrugen. Der Fotograf stimmte mir zu. Er hieß Dieter. An seinen Nachnamen kann ich mich nicht mehr erinnern.
Unter Anleitung des diensthabendenden Sonntagsredakteurs tippte ich auf der schweren Schreibmaschine eine mehrzeilige Bildunterschrift unter das Foto und setzte dahinter in Klammern „heb“. Das war von jetzt an mein Autoren-Kürzel. Ich hatte „hebo“ vorgeschlagen, so hatten mich meine Kumpels in Biberach genannt. Aber „hebo“ ging nicht. Erlaubt waren höchstens drei Buchstaben. Dann also „heb“.
Fünf Jahre blieb ich bei der Waiblinger Kreiszeitung, die ihren Mantelteil von den Stuttgarter Nachrichten bezog. Dann verschlug es mich zum erstenmal nach Kanada. Fünf Jahre „heb“ waren genug, um den Journalismus von der Pike auf zu lernen. Ich musste über Mord und Totschlag berichten, über Sexualverbrechen und Oberbürgermeisterwahlen. Ich war bei Gemeinderatssitzungen eingenickt, bei denen es um Farbleitpläne für städtische Garagen ging. Und auch eine Reportage über die „Waiblinger Hausfrau des Jahres“ wurde von mir verlangt. Alice Schwarzer hätte mir den Kopf abgerissen.
Fünfzig Jahre später sitze ich mit zwei Frauen und zwei Männern an einem Wirtshaustisch in Weinstadt im Remstal. Es sind Kolleginnen und Kollegen aus alten Zeiten. Uschi und Ingrid kamen erst später zur Zeitung. Uli und Oskar waren fast von Anfang an dabei.
Uschi Entenmann leitet heute die Reportagenagentur „Zeitenspiegel“, schreibt für fast alle namhaften Publikationen, einschließlich GEO. In Havanna baute sie die kubanische Niederlassung der Agentur auf und lebte mehrere Jahre auf der Karibikinsel. Wenn sie nicht gerade schreibt, managed oder reist, spielt sie Saxophon in einer Jazzband.
Ingrid Eißele, ebenfalls eine erfahrene Journalistin mit weltweiten Reporter-Einsätzen, leitet heute das „stern“-Büro für Baden-Württemberg. Eine wunderbare Kollegin mit einfühlsamen Texten und klugen Interviews, die in vielen renommierten Publikationen erschienen sind.
Oskar Beck ist eine der Edelfedern im deutschen Sportjournalismus. Seine Reisen haben ihn rund um den Globus geführt. Er hat über Olymische Spiele, Weltmeisterschaften und andere Events berichtet und lebt heute auf der Schwäbischen Alb und in Miami/Florida. Die nächste Fußball-WM in Russland wird ohne „Ocke“ stattfinden: „Wo Putin ist, gehe ich nicht hin“. Einmal Revoluzzer, immer Revoluzzer.
Uli Reinhardt hat nach seiner Zeit als Fotograf bei der Waiblinger Kreiszeitung zusammen mit anderen mutigen Kreativen die feine Reportage-Agentur Zeitenspiegel gegründet. Inzwischen gehört eine hauseigene Journalistenschule dazu.
Uli erwähnte bei unserem Wirtshaustreff in Wenstadt eher nebenbei, als müsste er kurz mal Brezeln holen, dass er morgen eine dreiwöchige Reporterreise durch Südafrika, Kenia und Nigeria antreten werde. Der Mann ist über 70, sein Energiepegel noch immer enorm. Auch ein Autounfall, bei dem er sich vor ein paar Monaten eine schwere Rückenverletzung zugezogen hatte, schaffte es nicht, ihn auszubremsen. Der Unfall passierte übrgens in Irland. Genau dort war ich mit Uli, kurz nach unserem Kennenlernen vor 50 Jahren, wochenlang unterwegs.
Gestandene Journalisten, die eines gemeinsam haben: Die Zeit bei der Waiblinger Kreiszeitung. Der Wichtigste fehlte leider in unserer Runde: Richard Retter, dem alle von uns so viel zu verdanken haben.
Unglaublich, was diese kleine Lokalredaktion hervorgebracht hat! Kompliment. Der Herr Retter muss wirklich ein glückliches Händchen für tolle Journalisten gehabt haben.
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