Fernsehen war gestern

streamingEs war Mitte der 80er-Jahre, als mich hin und wieder ein freundlicher Belgier namens Georges Lissoir in meiner Wohnung im Stadtteil Notre-Dame-de-Grâce besuchte. Bei Kaffee, Calvados und Käseschnitten redeten wir dann stundenlang über dies und jenes, vor allem aber über Computer und Medien.

Monsieur Lissoir war mehr als nur mein Vorgesetzter bei Radio Canada International, dem staatlichen kanadischen Auslandssender. Er war ein Visionär.

So fand er es schon vor 35 Jahren im Hinblick auf die globale Entwicklung wichtiger, Mandarin und Hindi zu lernen als Italienisch oder Spanisch.

Er selbst beherrschte vier oder fünf Sprachen. In der Mittagspause hörte man ihn durch die halb geöffnete Bürotür oft chinesische Vokabeln nachsprechen.

Mein Chef beim Radio war schon damals davon überzeugt: Rundfunk und Fernsehen, wie wir es kennen, sind Auslaufmodelle.

An ein Gespräch mit ihm erinnere ich mich noch besonders gut. „Wäre es nicht großartig“, träumte ich laut vor mich hin, „wenn wir auf Knopfdruck jeden Song der Welt in unser Wohnzimmer beamen könnten, ohne einen Plattenladen zu betreten?“

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Das Team von Radio Canada International in den achtziger Jahren. Stehend von links nach rechts: Georges Lissoir, Margret Schwaikowsky, Erwin Potitt, Herbert Bopp. Vorne sitzend: Gunter Michelson und Maggy Akerblom. Nicht auf dem Bild: Dr. Peter Bernath.

„Wir werden es noch erleben“, prophezeite der weise Georges Lissoir und ging noch einen Schritt weiter. „Nicht nur Musik werden wir schon bald unabhängig von Zeit und Ort hören können. Auch Filme und Fernsehen können wir haben, wann und wo wir wollen“.

Das war zu einer Zeit, als das, was man später Internet nannte, noch nicht einmal laufen konnte. Es klang zu schön, um wahr zu sein.

Und doch ist es genau so gekommen. In unserem Haus gibt es zwar noch einen Flachbildschirm, aber schon seit Jahren keinen Fernsehanschluss mehr. Trotzdem verpasse ich keine wichtige Nachrichtensendung, sehe regelmäßig Böhmermann und Heute-Show. Und den „Tatort“ streame ich mir dank ARD-Mediathek dann ins Haus, wann es mir passt und nicht, weil gerade Sonntag ist.

Mein Privatkino heißt Netflix, mein privater Radiosender kommt aus Schweden und nennt sich Spotify. Kein Musiktitel, den ich nicht in Sekundenschnelle finde.

Als gestern Abend im Fernsehen die Debatte der Kandidaten für die Wahl am 21. Oktober lief, verpasste ich keine Sekunde davon. Auch ohne Fernseher war es mir möglich, die Diskussion aus dem Internet direkt auf meinen Flachbildschirm zu beamen. Und hätte ich jetzt, 20 Stunden nach der Ausstrahlung, Lust, mir die Sendung erneut anzuschauen, würde ein Mausklick auf den Streaming-Link genügen.

Ob Nachrichten-Sendungen oder Netflix-Serien, Oscar-Events, Kochshows oder Polit-Talks – es gibt fast nichts, das ich nicht sehen könnte, obwohl ich keinen Fernsehanschluss habe.

Nur beim Sport wird es gelegentlich eng. Live-Events werden häufig aus rechtlichen Gründen nicht gestreamt.

Da hilft dann eben der gute, alte Gang in die nächste Kneipe.

Georges Lissoir würde mich bestimmt liebend gerne dorthin begleiten. Leider ist er vor einigen Jahren verstorben.

2 Gedanken zu „Fernsehen war gestern

  1. Ich habe mich ziemlich lange (bis vor ca. Einem Jahr) gegen Spotify gewehrt und CDs gekauft. Inzwischen liebe ich diese App, gerade weil man beim stöbern jede Menge Musik findet, die man im Laden nicht finden würde.
    Ja, das alles ist natürlich schlecht für den stationären Handel, aber das ist eine andere Diskussion 🙂

    Gefällt 1 Person

  2. Ich weiß nicht, ob einen diese Wahlfreiheit nicht auch einschränkt. Denken wir an die vielen „B-Seiten“ auf Singles. (= Ich meine die anderen Seiten der desserttellergroßen schwarzen Vinylscheiben ;)). Mit Einführung der CD’s hat man viel selektiver Musik gehört und wie viel mag einen dadurch entgangen sein! Wer hörte auf CDs noch die ganze „Platte“ durch?

    Ähnlich ist es mit Filmen oder auch Musikstücke, von denen man bisweilen beim Zappen überrascht wird. Von deren Existenz man nichts ahnte und die man daher auch nie gezielt ausgewählt hätte.

    Man sollte das eine tun ohne das andere zu lassen! ;)

    Feiertagliche Grüße,
    Prensal

    Gefällt 1 Person

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