Um die Gelassenheit zu verstehen, wie Kanadier mit Notsituationen umgehen, muss man den kurzen Chatverlauf weiter unten lesen. Gut zehn Stunden, nachdem in unserem Viertel der Strom ausgefallen war, textete mir mein Kumpel Jean von gegenüber, sein Handy-Akku mache bald schlapp: „Nur noch 2 %. Gute Nacht“.
Die von mir vorgeschlagenen Wiederbelebungsversuche („Schließ’ dein Handy an dein iPad an, das dir als Akku-Ersatz dient“), funktionierten nicht, weil uns die passenden Kabel fehlten. Aber das war irgendwie auch egal. Dann geht man eben ins Bett.
Stromausfall ist für uns kein Schreckgespenst mehr, es ist schon viel zu oft passiert. Fast immer kommt der Blackout ohne Ankündigung. So auch gestern. Eine Erdgasleitung war gerissen. Aus Sicherheitsgründen musste der Strom abgeschaltet werden, bis alles wieder im Lot war.
Als wir noch in unserem schnuckeligen Haus auf dem Land lebten, gab es in einem Jahr mehr Stromausfälle als ich in meinem ganzen vorherigen Leben in Deutschland erlebt hatte.
Irgendwann gewöhnt man sich daran, macht es sich am offenen Kamin gemütlich, trinkt Tee mit Wasser vom Holzofen, liest im Kerzenschimmer sein Buch oder spielt mit dem Hund.
Es sei denn, es wird eine Katastrophe wie der Eissturm von 1998 daraus. Damals starben 28 Menschen, viele davon an Erfrierungen. Manche Haushalte hatten wochenlang keinen Strom.
Hier in der Stadt sind offene Kamine verboten, es gibt keinen Hund mehr und weil eine Heizquelle fehlt, gibt es auch keinen heißen Tee. Also trinkt man entweder Bier aus dem Kühlschrank, der jetzt langsam abtaut. Oder man geht ins Kino.
Wir haben uns für Letzteres entschieden. Zwar wird „Last Christmas“ im Internet als der schlechteste Film des Jahres gefeiert, aber wenigstens ist es im Kinosaal kuschelig warm.
Während wir uns zwei Stunden lang den Abend bei einer Schnulzenkomödie verkürzen, glüht die Facebook-Seite unserer Wohnanlage mit Kommentaren. Die meisten von ihnen sind lustig:
„Scheiße!“, postet eine junge Frau mit drei Angry-Smilies, „wie soll ich mir denn da meine Haare föhnen?“ „First World Problem“, lautet lakonisch die Antwort. Dann eben ohne frisch geföhnte Frisur ins Bett. Geht doch.
„Nur noch zwei Kunden ohne Strom!“, schreibt ein Scherzbold und postet die aktuelle, aber falsche Nachricht des Elektrizitätswerks als Screenshot. „Die zwei Kunden sind vermutlich Du und ich“, endet der Post. „Und ich“, schreibt eine „Julie“ von nebenan. „Ich auch“, heben weitere stromlose Opfer solidarisch den digitalen Zeigefinger, der bei Facebook „Comment“ heißt.
Nach dem Kinobesuch, einschließlich Fastfood vom Thailänder, ist noch lange nicht Schluss mit ohne Strom. Die ehemalige Zigarettenfabrik, die unser Loft-Zuhause ist, erstrahlt noch immer in absoluter Dunkelheit.
Nur ganz kurz flackert die Opferrolle in einem hoch: Warum haben eigentlich alle Gebäude um uns herum Licht, nur wir nicht? Die Antwort darauf überlassen wir geduldig dem Stromversorger Hydro Quebec. Und natürlich Facebook.
Da macht sich einer gegen Mitternacht Sorgen über den Zustand unserer schönen Stadt: „Montreal ist so fragil“, liest sich fast poetisch, wenn um einen herum die Dunkelheit tobt.
Irgendwann wird’s Zeit fürs Bett – ob mit oder ohne Strom. Kurz vor dem Schlafengehen noch ein Blick aufs Handy, das dank der USB-Verbindung zum Notebook noch immer Akku hat. Morgen früh um 07:15 Uhr sei der Saft bestimmt wieder da, tröstet uns das E-Werk. Na dann mal geruhsame Nacht.
Oder doch nicht? Gegen 02 Uhr rattert und blitzt es und surrt und klickt’s. Der Strom kommt! Aber nur für ein paar Sekunden, dann ist wieder Schluss mit lustig und der einsetzende Drucker neben deinem Bett hat wieder Ruhe. Gemütliche Dunkelheit legt sich erneut über deine Wohnung.
Kaum bist du wieder eingeschlafen, läuft der Drucker erneut zu großer Form auf. Es blitzt und klickt wieder und auch der Kühlschrank meldet sich durch ein Surren, dass er wieder voll da ist. Für einen Moment denke ich an ein kühles Bier, entscheide mich aber dann doch für die warme Zudecke.
Inzwischen graut draußen ein neuer Morgen. Der Sohn wünscht vom anderen Stadtviertel aus per SMS einen schönen Tag. Und hat keine Ahnung, dass die Eltern gerade 15 Stunden ohne Strom waren.
Und wenn schon: Es würde ihn nicht groß überraschen. Schließlich leben wir ja im Land der Gelassenheit.
Es ist inzwischen 09:30 Uhr. Unfassbar: Wir haben noch immer Strom!
Oh no!!!!
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Kaum schreibt man davon, schon liest man die Outage-News (self-fulfilling prophecy?) vom westlichen Vancouver Island und Großraum Vancouver:
Nearly 20,000 customers already without power in Lower Mainland due to windstorm
~
The windstorm has also caused outages affecting thousands in Burnaby, Coquitlam, West Vancouver, Bowen Island, and Maple Ridge.
The outages affected a whopping 9,000 customers in West Vancouver and North Vancouver alone.
~
Windstorm knocks out power, causes ferry cancellations on Vancouver Island.
BC Hydro is responding to power outages across the Island, including Duncan, Victoria, the Gulf Islands and Nanaimo.
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Mein Daume hält mit!
15 Stunden ohne Strom hört sich schon heftig an (gemütlich im Warmen mit Strom im fernen Ländle). Vor allem, weil man ja nie weiß, wann der Strom wirklich für längere Zeit (ständig) wieder kommt. Erfreulich, dass es in der großen Stadt noch anderswo Strom gab und Kino-Plätze zum Aufwärmen. Das muss ich mir merken.
2 % auf dem Handy-Akku hatte ich kürzlich in B.C.,
allerdings war das Handy nach dem Blitzrettungsversuch von Best Buy dann hinüber. Das erst ein Jahre alte Handy konnte man nicht mehr laden. Wie praktisch, wenn man weit weg von daheim ist. Das Gute dabei war, dass es noch recht warm war und Plan B und C.
Solche längeren Stromausfälle erlebten wir einmal besonders heftig 1994 um die Weihnachtszeit in Kroatien an der Küste. Mit dabei ein drei Monate altes krankes hochfieberndes Baby mit Mittelohrentzündug und ein frisch am Meniskus Operierter. Die Ärztin vom naheliegenden Krankenhaus kam beim Schneesturm damals nicht zum Baby durch, erst nach 1,5 Tagen. Zudem waren die Türen dick vereist (teils 30 bis 40 cm), dass man sie zwei Tage bei den meisten Häusern und Geschäften nicht öffnen konnte. Die Bewohner haben an der Küste in ihren Wohnküchen einen 3fach-Funktions-Herd. den kann man mit Strom, Gasflasche oder mit Holz anheizen. Sehr praktisch. In Großstädten dürfte das auch nicht (mehr) erlaubt sein. Dort geht man meist gelassen mit dem Stromausfall um.
Im Dezember 2008 gab es einen besonders heftigen Winter auf Vancouver Island und auch später in Vancouver öfters längere Stromausfälle. Da ging / fuhr fast nichts mehr. Ich hatte das Glück und war öfters tagsüber auf V.I. alleine im Haus (Gastgeber schlitterte 40 km zur Arbeit) und machte mir vorsorglich immer heißen Kaffee und Tee in Thermoskannen. Das habe ich bis heute beibehalten. Gewärmt habe ich mich am Hauskater, wenn die Heizung längere Zeit im dunklen großen Haus ausfiel.
Damals notierte ich mir:
But than the other surprise, old man winter blasted just this location I was actually there in a winter storm and buried my position. The record snowfall in December was breaking a 44-year-old record. I heard and read in the news, that the place I was had three times as much snow. Near my city snowfalls ranged from 40 to 50 cm – likely one of the heaviest snowfalls there at any time of the year over the last 61 years, according to Canada. Me and the city were the big winner in the snowfall lottery for a little while.
Klar wurden die winterlichen Wetter-Nachrichten noch getoppt. Das ist Kanada!
Zündhölzer funktionieren meistens auch nicht, wenn man sie dringend für Kerzen oder ein
kleines Feuerchen im Backyard bräuchte.
Dem Manne, der diese Nacht auf dem Pfad unterwegs ist,
möge ihm der Proviant nie ausgehen,
mögen seine Hunde nicht lahmen,
mögen seine Zündhölzer nie versagen.
Jack London
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Köstlich! 😂
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Liest sich spannend und Ihr seid wenigstens mal wieder ins Kino gekommen. (Wahrscheinlich ist das Hervorrufen von Stromausfällen sogar die neue Masche der vom Niedergang bedrohten Kinoindustrie! ;) ).
Wie wäre es mit der Anschaffung eines sog. „Starthilfe-Powerakkus“ für KFZ? Die Dinger ähneln Defibrillatoren und man kann – so man sie in stromreichen Zeiten hübsch aufgeladen hält – vermutlich 100 Jahre lang seine Unterhaltungselektronik daran laben, im Schein des meist enthaltenen Lämpchens ulkige Schattenspiele veranstalten und damit den Nachbarn Neidgefühle bescheren. Da meist auch irgendwelche Aufpumpvorrichtungen serienmäßig sind, könnten damit zur Unterhaltung auch sämtliche Luftmatratzen und Schwimmtiere auf- und abgepumpt werden.
Ich kenne das Problem ein wenig von einer uns bekannten kleinen Mittelmeerinsel. Wer dort nicht Maß hält und etwa Föhn und Heizung gleichzeitig in Betrieb nimmt, der bekommt umgehend seine Lektion. Schließlich kann man seine Haare ja auch an der Heizung trocknen oder sich am Föhngebläse erwärmen. Niemals jedoch beides gleichzeitig! :)
Ich halte die Daumen, dass der Strom hält!
LG
Prensal
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