Wo soll ich anfangen? An dem Tag, an dem ein sonst hochanständiger Kumpel ein paar Kaltgetränke zu viel intus hatte und mit so viel Energie auf meinem Klavierstuhl tanzte, bis er schmetternd unter ihm zusammenkrachte? Oder mit meinem viel zu früh verstorbenen Freund Bob, der genau diesen Drehstuhl dann wieder liebevoll reparierte?
Vielleicht sollte ich einfach erzählen, dass ich vor ein paar Tagen von genau diesem Hocker fiel, als Lore mir Bart und Haare schnitt. Kaltgetränke waren an diesem Morgen, ich schwöre es, garantiert nicht im Spiel.
Wer repariert mir jetzt so einen Stuhl, der gute hundert Jahre alt ist und viele, viele fröhliche Stunden auf dem drehbaren Buckel hat? Anfragen bei Facebook und bei richtigen Freunden verliefen im Sand. Und weit und breit kein Bob mehr.
Der Stadtflaneur in mir erinnerte sich plötzlich an ein Schild, das ihn schon seit seiner Ankunft in Montreal vor fast 40 Jahren fasziniert. Es ist eine überdimensionale Klaviatur mit schwarzen und weissen Tasten, so wie es sich eben für ein Klavier gehört.

Also hin zu dem Laden an der Rue Rachel, irgendwo zwischen dem Boulevard St. Laurent und der Rue St. Urbain – dort, wo mein Montreal noch am ursprünglichsten ist. Um die Ecke stehen selbst in Corona-Zeiten noch Schlangen von Menschen vor dem Diner „Schwartz’s“, weil es dort das angeblich beste Smoked Meat der Welt gibt.
„Hallo, mein Freund!“, begrüßt mich Luis, der eigentlich Alois heißt und 80 Jahre alt ist. Das mit dem „Freund“ geht in Ordnung, auch wenn ich Luis noch nie zuvor in meinem Leben begegnet war. Wir hatten uns nur kurz am Telefon gesprochen.
Und das mit der deutschen Ansprache hat auch eine Erklärung: Luis kennt sich nicht nur mit Klavieren aus, sondern auch mit Akzenten. Echt jetzt? Habe ich es nach fast einem halben Jahrhundert Kanada immer noch nicht geschafft, völlig akzentfrei Englisch zu reden?
Jedenfalls hat mich Luis dabei ertappt, Deutscher zu sein. Er selbst kommt aus Slowenien und ist in jungen Jahren nach Österreich gegangen, um das Orgelbauer-Handwerk zu erlernen. Irgendwann rief dann das ferne Kanada und dort ist er jetzt seit den 50er-Jahren.
Seine Werkstatt ist eine Mischung aus slowenischer Tanzbühne, Heimatmuseum und der Schreinerwerkstatt des Meister Eder. Nur Pumuckl fehlt. Dafür ist Luis Junior da, der Sohn des Meisters. Klavierbauer ist er – was sonst?
Es riecht nach Leim und Metall, nach Holz und Schmieröl. Korpusse stehen neben Resonanzböden, da ein Stimmstock, dort Tasten, Federn, Zungen, Stößel, Dämpfer und Hämmer. Es gibt Klaviaturen. Pedale mit Füßchen aus Messing und Chrom. Vor allem aber gibt es Klaviere in Luis’ Klavierwerkstatt.
Dort stehen sie, die Steinways, Gunthers und wie sie sonst alle heißen. Aufgereiht und in Watte gepackt, abholbereit für den nächsten Kunden. Das kann ein feines Hotel sein oder eine Hochzeitsgesellschaft, die einen Flügel ganz in Weiß wünscht. Die beiden Luise reparieren nicht nur Klaviere, sie hegen und pflegen sie auch, bewahren sie auf und vermieten sie.
Geben Sie dem Mann am Klavier eine Stunde Zeit, sprudelt sein Leben auf zwei Kontinenten nur so aus ihm heraus. Memorabilien zieren die Wände, verblichene Relikte aus einer Zeit, in der Yamaha noch ein Motorrad war und kein Klavier für diejenigen, die sich keinen Flügel leisten können.
Ein Foto von Pierre Elliot Trudeau hängt irgendwo verstaubt zwischen Plakaten einer slowenischen Blaskapelle, einem ausgestopften Elchkopf und der Lizenz des Klavierbauers.
Pierre Trudeau war langjähriger Premierminister Kanadas und der Vater von Justin Trudeau, dem derzeitigen Regierungschef des Landes. Monsieur Trudeau Senior hatte das Klavier seiner Mutter stimmen lassen – bei einem Stümper, wie sich herausstellte.
„Können Sie mir das Klavier nochmal stimmen, diesmal aber richtig?“, habe Monsieur Trudeau ihn gefragt, „Natürlich, Sir!“, habe er dem hohen Herrn geantwortet. „Vergiss den Sir“, habe der gesagt, „nenn‘ mich einfach Pierre“. Und weil das Klavier jetzt auch den richtigen Ton abgab. schenkte Pierre Trudeau dem Luis eine Urkunde mit Widmung.
Luis hat Dutzende von Geschichten wie diesen in seinem Repertoire. Eine davon, die letzte, die er mir an diesem herrlichen Spätsommernachmittag in Montreal erzählt, ist nicht so lustig.
Luis zieht um. Die Einnahmen aus seinem Geschäft decken die Unkosten nicht mehr. Die Steuern, die er jährlich für seinen Betrieb entrichten muss, haben astronomische Höhen erreicht. Doch die Stadtverwaltung kennt keine Gnade. Also gibt er die Werkstatt, die er seit 1969 betreibt, auf und zieht in den Süden von Montreal.
Weniger Steuern, mehr Geschichten. Zum Beispiel die hier: Das Haus, in dem Luis und Luis künftig wohnen und arbeiten werden, gehörte einem passionierten Fischer und Flieger. Sein letzter Flug führte ihn in den Tod. Auf dem Weg zum Angeln stürzte er mit seiner Maschine ab,
Und ja, den Klavierstuhl hat Luis repariert. Fachgerecht und schnell. Das Ganze für weniger Dollars als eines seiner Klaviere Tasten hat.














Schöne Geschichte und toll, dass es noch Menschen gibt, die das Handwerk beherrschen.
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Eine tolle Begegnung mit einem Original, und wunderschön erzählt, lieber Herbert. Dankeschön.
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Hast uns mal wieder teilhaben lassen, an einer tollen Geschichte
Eifel55
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Autsch! Das muss ein schoenes Chaos gewesen sein. Aber gehoert auch zu so einer Studentennacht.
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Schoen, dass Du Deinen Stuhl repariert bekommen hast. Aber so schade, dass Louis seine Werkstatt aufgeben muss.
Das Bild von dem Durcheinander von all den Kleinteilen erinnert mich an meine Studentenzeit, als wir einmal in einer wilden Nacht das Klavier auf dem Verbindungshaus in seine Einzelteile zerlegt haben. ;)
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Wunderbare Erzählung! Danke!
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Pedro, Pedro … bin ich froh, dass ich dich nicht wegen des Titels konsultiert habe! Also, die Gescichte mit dem Broetchenholen geht so … Okay. Ein andermal.
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Wunderbarer Artikel, lieber Herberto, der vor allem dem Musikfreund unter die Haut geht. Eigentlich wollte ich dir als Titelvariante „Mein Stuhlgang“ vorschlagen, aber ich denke, die nehme ich besser zurück und hebe sie mir für eine noch unpassendere Gelegenheit auf.
P.S. Ich glaube, du wirst auch noch das morgendliche Brötchenholen zu einem nobelisablen Epos verarbeiten!
Gruss, Pedro
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How fortunate to meet a master craftsman. Before I reached the „last story“ I actually wondered if he would still be there when we next visited Montreal. Alas, he will not.
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