Ein bisschen wie Dschungelcamp


“Mer muß och jönne könne”. Ein schöner Ausdruck, finde ich. Klingt auf Schwäbisch nicht annähernd so treffend wie auf Kölsch. Und ist, wenn es hart auf hart kommt, nicht immer ganz einfach zu befolgen. Zum Beispiel, wenn beim Nachbarn von gegenüber die Festbeleuchtung brennt und deine Straßenseite liegt mal wieder im Dunkeln. Stromausfall. Wie gestern Abend.

Warum muss ich eigentlich gönnen können, wenn der Nachbar etwas hat, das ich auch gerne hätte? Zum Beispiel Strom am Samstagabend. Mit Fernsehen, Internet, Radio. Und vor allem: mit Heizung! Aber beim Stromausfall hört die Demokratie auf. So passiert es häufig, dass ein Leitungsnetz noch Saft hat, während das andere tot ist. Verläuft die Stromscheide dann gerade durch dein Wohnviertel, kann das richtig bitter sein. Und ähnlich wie bei der Schlange an der Ladenkasse: Meistens trifft es dich und die anderen kommen schneller voran als Du. Denkst du jedenfalls.

Eissturm '98: Eingeknickte Elektromasten (CBC)

Im Winter sind hier unangekündigte Stromausfälle an der Tagesordnung. Manchmal dauert der Blackout nur eine Stunde. Manchmal zehn Stunden. Oder auch zwei Wochen, wie beim legendären Eissturm von 1998. Dann geht es um mehr als um Fernsehen und Ipod. Es geht um Leben und Tod. Durch Erfrieren. Stromausfall gibt es meistens nach Eisregen. Auf den Überlandleitungen bildet sich eine dicke Eisschicht. Die Kabel reißen unter der Last des Eises. Das war’s dann. Da ein Großteil der Elektroleitungen in Kanada noch immer über der Erde verläuft und nicht unterirdisch, gehören Blackouts zum Winter wie Glühwein und Weihnachten. Nur nicht so gemütlich.

Jeder kennt das Blackout-Ritual: Kerzen vorm Kaminofen

Wer lange genug hier wohnt, kennt das schon: Es fängt mit einem zaghaften Lichterflackern an. Dann werden die Abstände immer kürzer. Noch einmal atmen  Elektroheizung und Kühlschrank tief durch. Ein letztes Aufbäumen – und weg isser, der Strom. Das Ritual, das dem Blackout folgt, ist bis ins Detail erprobt. Nichts wird dem Zufall überlassen: Kerzen an. Rechner aus. Kaminofen an. Handy aus. Batterie sparen für den Ernstfall! Ab jetzt spielt sich alles in einem Zwei-Meter-Radius rund um den Kamin ab. Ein bisschen wie Dschungelcamp. Gemütlich? Schon. Aber nur, wenn sonst keine Pflichten rufen.

Letzte Rettung: Truckstop – Foto:Flickriver

Wie das so ist mit den Überraschungen: Meistens kommen sie dann, wenn man sie so gar nicht brauchen kann. Zum Beispiel an Tagen, an denen der Job nur mit einer Internetverbindung möglich ist. Solche Tage soll es bei Onlinejournalisten ja öfter geben. Muss dann auch noch nach Deadline gearbeitet arbeitet werden, bleibt nichts anderes übrig als die Flucht ins nächste Netz. Auch die ist gut geübt. Notebook unter den Arm. Mit dem Wagen zwölf Kilometer zum Truckstopp am Highway Number One. Dort gibt’s immer Strom, und sei es per Generator.

Also: Platz nehmen zwischen gut genährten Lkw-Fahrern, die auf dem Weg von San Francisco nach Halifax das dritte Frühstück einlegen. Einloggen. Loslegen. Bingo! Es gibt WLAN im „Flying J“-Roadhouse. Alles andere interessiert jetzt nicht.

Was der Kunde besser nicht weiß: Seine Medienanalyse, sein Text, die Mail, der Screenshot, sind inmitten von Truckern zwischen Spiegelei und Speck in einer Autobahnkneipe am längsten Highway der Welt entstanden. Beneidenswerte Arbeitsbedingungen? Stimmt. Aber: “Mer muß och jönne könne!”