Meine Lieblingsstraße schwächelt

Der Boulevard St. Laurent war einer der Gründe, warum ich mich bei meinem ersten Besuch in Montréal verliebt habe. Schräg, schrill, bunt, versifft, hip. Alles. Eine Straße, die immer schon Lust, Lüsternheit, Leiden und Leidenschaften dieser Stadt widerspiegelte. Zurzeit kommt „The Main“, wie die Montréaler ihren geliebten Boulevard nennen, ein wenig traurig daher. Ein Geschäft nach dem anderen macht dicht. Und wieder einmal tragen die Politiker Mitschuld.

Wo früher ein Krämerladen war, der fangfrischen Fisch neben Kräutersträußchen und Mehl im Jutesack verkaufte, hat sich heute Rosa’s Bijouterie breit gemacht. Ich frage mich, wie lange sich Armbanduhren und Diamanten noch neben einer portugiesischen Hähnchenbraterei verkaufen lassen. Den Juwelierladen gibt es noch, viele andere Geschäfte nicht mehr.

American Apparel („Made in Downtown Los Angeles“) brummt in anderen Teilen der Stadt. Am Boulevard gibt es die Boutique nicht mehr. Dafür hat ein Italiener aufgemacht – noch einer! – der Pizzen und Spaghettisauce in Tupperware zum Mitnehmen anbietet, weil die Leute nicht gerne in ein Lokal kommen, das aussieht, als liege es in Bagdad und nicht in der zweitgrößten Stadt des zweitgrößten Landes der Erde. Das Kino gegenüber, einst ein Tempel für auserlesene Filme, legt nur noch ab und zu einen Streifen ein. Vorbei sind die Zeiten, als sich dort Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta unter den Augen der Weltpresse Streitgespräche auf der Bühne lieferten.

Und selbst mein Lieblings-Diner Schwartz Delicatessen muss sich verstärkt bemühen, die Foodies bei Laune zu halten, die Schlange stehen, um einen Happen Smoked Meat zu ergattern. Die Massen kommen noch immer, das Smoked Meat schmeckt nach wie vor. Aber der Besitzer des jüdischen Delikatessen-Restaurants heißt nicht mehr Hy Diamond sondern René Angélil. Er ist der Ehemann von Céline Dion und hat, zusammen mit anderen Geldmenschen, neulich für zehn Millionen Dollar das lukrativste Montréaler Loch in der Wand aufgekauft, ohne es zu reparieren. Schlimm genug, zuschauen zu müssen, wie meiner Montréaler Lieblingsstraße die Schminke vom Gesicht blättert. Den benachbarten Straßen Avenue du Parc und Rue Prince Arthur droht ein ähnliches Schicksal. Zugebretterte Restaurants, aufgerissene Straßenzüge und eine Brandruine, die einst das griechische Restaurant Le Gourmet Grecque war, verbreiten eher das Image eines wunden Zeigefingers als das einer Prachtstraße.

urbanphotoWoran liegt’s? An politischen Fehlentscheidungen. Wieder mal. Mitten in der Wirtschaftskrise ganze Straßenzüge aufzureißen, um Leitungen zu ersetzen, die ohnehin schon hundert Jahre auf dem Buckel haben, ist Unfug. Brandruinen zwei Jahre lang stehen zu lassen, ohne die Abrissbirne zu schicken, ist eine Beleidigung für alle benachbarten Gastronomen, die sich bemühen, ihre Lokale fein herzurichten. Steuererhöhungen wie Stinkbomben mitten in die Rezession zu schmeißen, ist kurzsichtig. Und Parkuhren, die über Nacht in nimmersatte Monster umprogrammiert wurden, um Autofahrern für die Parkdauer eines Lokalbesuch den Preis einer Flasche Wein aus der Tasche ziehen, gehören verboten.

So wie die meisten Politiker, die in ihren Selbstbedienungsläden wüten als hätten sie jedes Recht der Welt, sich nicht nur an anderen Menschen zu bereichern, sondern auch über deren Schicksal zu entscheiden.

Amen.