Das ganze Leben ein Dilemma

Wer lange genug im Ausland gelebt hat, kennt das schon: Fliege ich zur Hochzeit des Freundes? Bin ich beim runden Geburtstag des Bruders dabei? Werde ich bei der „Goldenen“ der Schwester mit an der Festtafel sitzen können? Trauerkarte oder Flugticket, um nach dem Ableben von lieben Menschen sein Mitgefühl auszudrücken?

Kommen oder bleiben – die Entscheidung, die immer wieder aufs Neue gefällt werden muss, ist eigentlich nie eine Herzensangelegenheit, denn das ist ohnehin klar: Man wäre immer lieber dabei. Sie hat fast immer mit Logistik, Aufwand und Terminen zu tun. Und irgendwo auch mit Jetlag und Geld.

Das Herz wohnt seit 30 Jahren in Kanada, hüpft aber noch immer, wenn es Feste in Deutschland zu feiern gibt. Leider bereitet das hüpfende Herz seinem Besitzer dadurch regelmäßig erhebliche Kopfschmerzen.

Das Dilemma: Ich würde gerne, aber …

Klar wäre ich am Wochenende am liebsten bei der Hochzeit eines der engsten Freunde in Köln dabei gewesen. Natürlich möchte ich demnächst mit der Schwester und dem Schwager im Allgäu darauf anstoßen, dass sie es 50 Jahre miteinander ausgehalten haben. Und, ja, auch am Begräbnis des langjährigen lieben Bekannten, der jetzt plötzlich das Zeitliche gesegnet hat, hätte ich vorige Woche selbstverständlich teilgenommen, wenn ich in Köln und nicht in Kanada wohnen würde. Aber weil oft der Wohnort die Umstände bestimmt und nicht das Herz, schiebt sich der Konjunktiv immer häufiger in die Mitte meines Lebens. Ich würde gerne, aber …

Aber was? … aber ich kann nicht Ende August nach Köln und Mitte September schon wieder ins Allgäu reisen, um wenig später – beruflich – ohnehin wieder in Deutschland zu sein. Das Leben als Vielflieger ist nicht nur ziemlich uncool, weil es die Umwelt mit Co2 versaut. Es ist auch sündhaft teuer geworden. Ein Rückflugticket Montréal-Frankfurt ist zurzeit unter 1 500 Dollar kaum zu haben. Und da beim Einsatz von Gratis-Flugmeilen der Staat die Hand mit aufhält, bleiben allein für Steuern, Umwelt-, Sicherheits- und sonstige Abgaben noch 600 Dollar am Besitzer des „miles&more„-Kontos hängen. Dafür opfert man dann 65 000 Flugmeilen. Fair ist anders.

Das Herz hüpft, die Seele möchte feiern

Dazu kommt noch der Störfaktor „Präzedenzfall“. Heute feiert die Schwester goldene Hochzeit, in einem Jahr wird der Bruder siebzig. Unmöglich, bei der einen zu kommen, beim anderen zu bleiben, wo man doch beide gleich lieb hat. Und irgendwo ist da noch der Freund, der im reifen Alter nochmal Vater wird. Wenn das kein Grund zur Freude ist. Und zum Feiern. Und damit zum Kommen. Sorry, geht leider nicht.

Die Seele, freilich, interessiert sich für Gehirnakrobatik wie diese nicht die Bohne. Sie will lediglich dabei sein. Mitfeiern, mitessen, mittrinken, mittrauern. Mitmachen eben.

Kompromisse, wo es keine Lösung gibt

Und weil man niemanden, wirklich niemanden, vor den Kopf stoßen möchte, müssen gelegentlich Kompromisslösungen her. So wie jetzt: Zur Hochzeit des Freundes, der gleichzeitig Patenonkel des Sohnes ist, wurde das Patenkind nebst Freundin in den Flieger nach Deutschland gesetzt. Zur „Goldenen“ reist die Frau an meiner Seite in zwei Wochen ausnahmsweise alleine nach Deutschland. Und erfüllt sich damit gleich noch einen anderen Herzenswunsch: Dabei sein, wenn der Grundschuljahrgang ein rundes Jubiläum feiert.

Frau lebt schließlich nur einmal.