
Juergen Leinemann (l) mit dem damaligen Aussenminister Joschka Fischer © Screenshot DER SPIEGEL mit einem Foto von © Monika Zucht
Es gibt Kollegen, die vergisst man nie. Ihre Geschichten, aber auch die Begegnungen mit ihnen brennen dir Spuren ins Gehirn, die dich nie wieder loslassen. Einer dieser Kollegen war Jürgen Leinemann. Der langjährige SPIEGEL-Reporter ist in der Nacht zum Sonntag in Berlin gestorben. Er wurde 76 Jahre alt.
Einen Nachruf über diesen einzigarten Reporter zu schreiben, wäre vermessen. Das haben die Kollegen gemacht, die Jürgen Leinemann besser kannten als ich. Es müssen schon großartige Nachrufe sein, die der journalistischen Klasse dieses Ausnahmejournalisten gerecht werden. Einen dieser Nachrufe schreibt ein junger SPIEGEL-Redakteur namens Alexander Neubacher. Der Nekrolog endet mit einem Satz, den sich wohl jeder Journalist für seinen eigenen Nachruf herbeiwünscht: „Er war ein großartiger Reporter, ein Vorbild für viele Journalisten und ein feiner Mensch“.
Intim, aber niemals verletzend
Leinemanns Geschichten, vor allem seine Politiker-Porträts, habe ich verschlungen. Keinem anderen Journalisten ist es meiner Meinung nach gelungen, näher an die zu porträtierenden Protagonisten heranzugehen, ohne dabei die Intimsphäre der Person zu verletzen, die es zu beschreiben galt.
Zweimal hatte ich das große Glück, Jürgen Leinemann zu begegnen. Das erste Mal vor gut 20 Jahren. Damals fand in Montreal der Weltkongress der Anonymen Alkoholiker statt. Ich habe für die ARD darüber berichtet. Im Pressezentrum fand ich unter den akkreditierten Kollegen den Namen meines großen Vorbilds. Ich legte ihm einen Zettel in sein Fach. „Ich würde mich freuen, wenn Sie sich bei mir melden könnten.“ Kaum hatte ich das Kongresszentrum verlassen, klingelte mein damals noch jungfräuliches erstes Handy. „Leinemann“, meldete er sich, „ich hätte jetzt Zeit“.
Wir mussten uns nicht lange beschnuppern. Sein Gesicht war mir aus zahllosen Reportagen bekannt, seine Stimme auch. Immer wieder hatte ich ihn im Fernsehen gesehen, bei Interviews über Menschen, denen er in journalistischer Akribie nahe gekommen war. Jürgen Leinemann war natürlich für den SPIEGEL beim AA-Weltkongress akkreditiert. Aber er war auch als Betroffener dort. Wer seinen Werdegang verfolgte, wusste, dass der begnadete Reporter ein Alkoholiker war.
Mit dem Star-Reporter bei den Anonymen Alkoholikern
Beim AA-Kongress nahm er mich mit ins Allerheiligste dieser Organisation. Ich wurde Zeuge einer jener Sitzungen, bei der betroffene Menschen ans Mikrofon gehen und ihre Vorstellung stets mit einem Satz wie diesem einleiten: „Mein Name ist Jürgen, ich bin Alkoholiker“. So erlebte ich auch Jürgen Leinemann. Er erzählte mir von seinen weltweiten Reisen, die immer dasselbe Ritual beinhalteten. Beim Einchecken im Hotel informierte er sich stets als erstes, wo die Anonymen Alkoholiker in der jeweiligen Stadt zu finden sind. Die Sucht ließ ihn nie mehr los.
Viele Jahre später bin ich Jürgen Leineman ein zweites Mal begegnet. Diesmal in Köln, anlässlich einer Preisverleihung. Da stand mein Held am kalten Büffet. Ich begrüßte ihn, wie man Menschen begrüßt, bei denen man davon ausgeht, dass sie sich nicht mehr an dich erinnern, obwohl sich deine Wege bereits gekreuzt haben. „Hallo Herr Leinemann“, sagte ich. Und er: „Ja, hallo! Die Stimme aus Kanada!!“ Er erinnerte sich an unser Treffen in Montreal. Ganz offensichtlich hatte er nach seiner Rückkehr auch meine Reportagen über das AA-Welttreffen im Radio gehört. Ich fühlte mich geadelt.
Bei jedem Seminar dabei: Mein journalistisches Vorbild
Auch wenn wir uns danach nie wieder begegnet sind, war Jürgen Leinemann mein ständiger Begleiter, ob er es wollte oder nicht. In jedem meiner Seminare, die ich in den vergangenen zehn Jahren gegeben habe – für den WDR, die ARD/ZDF-Medienakademie, für arte, den NDR, das Internationale Journaistenzentrum Krems bei Wien oder auch für bundestag.de – immer spielte der Name Leinemann als journalistisches Vorbild eine Rolle. Meine SeminarteilnehmerInnen können dies bestätigen.
Dass Jürgen Leinemann jetzt im Alter von 76 Jahren ausgerechnet an einer Krebserkrankung gestorben ist, die ihm die Fähigkeit zu reden genommen hatte, empfinde ich als besonders heimtückisch. Aber selbst im Angesicht des Todes hat dieser begnadete Kollege und feine Mensch noch die Energie zum Schreiben gefunden.
In seinem Buch Das Leben ist der Ernstfall berichtete er über seinen Kampf gegen den Krebs. Er hat ihn verloren.