Beim Wahrsager

wahr2Wenn Wahrsagen von „die Wahrheit sagen“ kommt, hat Ashok seine 20 Dollar redlich verdient. Ich hatte Ashok, den Wahrsager, in seinem Tempel im ersten Stock an der Montrealer Rue Jean Talon aufgesucht, gleich über der indischen Fahrschule, neben dem indischen Steuerberater. Dass ich Ashok, den Handleser, überhaupt aufgesucht habe, hat einen Rentner-Grund: Ich hatte einfach zu viel Zeit.

Ashok: Um die vierzig, freundlich, dicklich, verschwitzt. Rosa Seidenschal um den von der Hitze geröteten Hals. Bambiblick. Eine Stimme, wie man sie schon mal im arabischen Bazar gehört hat. Man könnte sich vorstellen, damit Ingwer zu raspeln.

Ashoks Behandlungsraum: So stellt man sich das Schminkzimmer von Tausendundeiner Nacht vor. Tempel-Athmosphäre. Götterfunken von den Wänden, von der Decke, von den Kostümen, die Ashok überall in seinem Privatgemach herumliegen hat. Blinkende Weihnachtslämpchen, draußen hat es 30 Grad. Traumhaft schön. Für den, der’s mag.

Ashoks Deko: Frische Blumen auf den Regalen. Frisches Obst in Schalen und Schälchen, auf Tellern und in Tassen. Süßigkeiten, die es im Happy India Store für 50 Cents pro Stück gibt. Memorabilien aus exotischen Ländern. Lediglich die Schachtel mit Aspirin zwischen dem Muschel-Schmuckkästchen und der Keramik-Kokosnuss stört.

Ashoks Mission: Keine.

Ashoks Auftrag: Keiner.

Ashok bittet zu Tisch. Mit Wasserflasche in der einen und iphone5 in der anderen Hand. Name? Geburtsdatum? „Bitte ab jetzt nicht mehr unterbrechen“. Ashoks Handy klingelt. „Sorrry. Jetzt aber wirklich nicht mehr unterbrechen!“

Geht klar, Ashok.

„Du bist an einem sonnigen Wintertag geboren, einem Samstagnachmittag“. Stimmt. Die ersten fünf Mark fürs Rateschweinderl hätte sich Ashok schon mal verdient.

Familie, Geschwister, Beruf, Ambitionen, Träume, Ziele, Erfolge, Misserfolge – Ashok weiss alles. Krankheiten? Ashok kennt plusminus die Jahreszahlen der großen und ganz großen Zipperlein.

Finanzen? Ashok kommt ins Schwanken.

Und ins Schwitzen. Er nimmt jetzt seinen Seidenschal und wischt sich damit übers Gesicht. Dann trocknet er sich die Hände ab und reicht mir eine davon, die Linke.

„Schlafstörungen“, sagt Ashok im Hinausgehen. „Dagegen solltest du etwas tun“. Aber was? „Es sind die Dämonen, die dich nachts wach halten“. Man könne sie vertreiben. Er wisse, wie das geht, sagt Ashok.

„Wie geht das, Ashok?“

„Komm wieder, Bruder. Ich sage es Dir“.

„Für 20 Dollar?“

„450“, sagt Ashok. Er nehme auch VISA.

Ein Gedanke zu „Beim Wahrsager

  1. Vor vielen Jahren, damals in Perth, habe ich auch neugierigerweise so etwas gemacht. Anschließend bekam ich über 4 Jahre regelmässige Post von Scientology. War übrigens nicht abzustellen, bis wir uns aus Australien wieder verabschiedeten.

    Danke, lieber Leopold. Da ich Ashok in cash bezahlt habe, gibt es keine Spur, über die er meine Adresse ausfindig machen könnte.

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