
Es war Ende Mai 1990, ein milder kanadischer Frühlingstag. Ich war von Montreal nach Ottawa gereist, um für einige ARD-Sender über den Besuch Michail Gorbatschows in der Bundeshauptstadt zu berichten. Der sowjetische Präsident hatte auf dem Weg nach Washington in Kanada eine kurze Zwischenstation eingelegt. Jetzt ist er im Alter von 91 Jahren gestorben.
Nach den obligatorischen Presse-Erklärungen hieß es irgendwann im Flur-Funk, Gorbatschow habe sich ein schlichtes Mittagessen gewünscht. Am Tisch sei noch Platz für eine Handvoll Journalisten. Das verstand ich als Einladung. Schließlich hatte auch ich mich, wie viele andere Reporter, offiziell für den Besuch Gorbatschows in Ottawa akkreditieren lassen.
Ich machte mich also auf zu irgendeinem dieser holzgetäfelten Räume im Regierungsviertel, stellte mich der Form halber vor (was vermutlich niemand sonderlich interessierte) und löffelte meine Suppe.
Es gab tatsächlich Suppe, daran erinnere ich mich noch. Es war ein Mittagessen ganz ohne Firlefanz. Suppe, Brötchen und Salat. Warum ausgerechnet ich das unverschämte Glück hatte, mit diesem Jahrhundert-Politiker an einem Tisch sitzen zu dürfen, ist mir bis heute nicht ganz klar.
Irgendwie war ich halt zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die Begegnung mit Michail Gorbatschow und seiner Frau Raisa sollte für immer einen Logenplatz in meinem persönlichen Geschichtsbuch bekommen.
Nicht dass ich tiefschürfende Gespräche mit den Besuchern aus Moskau geführt hatte. Um ehrlich zu sein, gab es außer einem freundlichen Handschlag bei der Vorstellung und einem kurzen “Hello” so gut wie gar keine Interaktion zwischen den Gorbatschows und mir. Überhaupt wurde sehr wenig geredet.
Brian Mulroney, der damalige Premierminister Kanadas, gewöhnlich ein Showman vor dem Herrn, war ungewöhnlich wortkarg. Ich hatte den Eindruck, dass auch er von diesem Last-Minute-Lunch überrumpelt worden war. Nur seine wie immer charmante Frau Mila unterhielt sich angeregt mit Raisa Gorbatschow. Worüber? Keine Ahnung. Der Dolmetscher war kaum zu hören.
Gorbatschow, der Wortriese, war kleiner als ich ihn mir vorgestellt hatte. Seine Stimme eher sanft und unaufdringlich. Hier saß kein russischer Bär am Tisch, sondern ein Typ Handelsreisender im grauen Anzug. Unscheinbar, könnte man fast sagen. Nichts von der ihm eigenen Aura war an diesem Tag zu spüren.
Im Nachhinein wundert mich nicht nur die Tatsache, dass ausgerechnet ich mit den Gorbatschows speisen durfte. Auch dass es so gut wie keine Security gab, kann ich noch heute kaum glauben.
Ich bin sicher, es wurde nach diesem fast unwirklich erscheinenden Mittagessen noch Weltpolitik gemacht. Immerhin standen bei der anschließenden Visite in Washington Sicherheits-Gespräche mit George H. W. Bush auf dem Programm.
Doch davon war an diesem Frühlingstag in Ottawa keine Rede. Zumindest nicht während der knappen Stunde, die ich mit Michail Gorbatschow bei Suppe, Brötchen und Salat verbrachte.
Als Journalist lernst du zwanslaeufig immer neue Leute kennen, darunter eben auch hin und wieder richtige Promis. Aber oft waren fuer mich die interessanten Menschen die, die man NICHT googeln kann, ueber die man (noch) nichts weiss. Bei Promis bist du im Interview oft nicht mehr so richtig hungrig, denn du weisst ja das meiste ohnehin schon aus dem Internet. Bei Normalos, die gute Geschichten zu erzaehlen haben, ist das anders. Da faengst du bei A an und hoerst bestenfalls mit einer klasse Story auf.
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Die Liste Deiner Promikontakte scheint endlos zu sein. Dennoch glaube ich, dass Gorbi zusammen mit George Harrison die absoluten highlights waren. Oder?
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Was für eine schöne Erinnerung an diesen großen Staatsmann! Ich hatte Anfang der Neunziger auch eine kurze Begegnung mit ihm, die ich bis ans Ende meiner Tage nicht vergessen werde.
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Das ist eine Erinnerung, die man nie vergisst!
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A great anecdote, well told!
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