Jetzt ist er wieder da, der kleine Mann im Ohr. Vielleicht ist es auch eine Frau. Ich tippe aber eher auf einen Mann. Denn, wenn ich die Frauen in meinem Leben bisher richtig verstanden habe, dann können nur Männer so nerven wie der Tinnitus.
Mann hat es nicht leicht, wenn er sich als 63-Jähriger ins letzte Drittel vorwagt. Zwar sammeln sich im Laufe eines gelebten Lebens jede Menge tolle Erfahrungen an. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass sich mit den Lebensjahren auch an immer mehr Stellen immer mehr nervige kleine Männer ansammeln. Hier ruckt es, dort zupft es und manchmal zwickt’s. Die Zipperlein nerven. Mein Landsmann Leonard Cohen formuliert die körperlichen Ungereimtheiten natürlich charmanter. „I ache in the places where I used to play“, singt er in Tower of Song.
Das Alter ist völlig überbewertet
In den Ohren tobt das Alter am schlimmsten. Es pfeift und quietscht und manchmal tut es auch weh. Tinnitus nennen Mediziner das. Nicht weiter schlimm, jeder Fünfte in meinem Alter leidet darunter. Aber die Statistik ist ein schwacher Trost. Für mich ist das Pfeifen im Ohr schlicht lästig. Basta. Und überhaupt wird das Alter völlig überbewertet. Außerdem ist es schlicht eine Zumutung.
Der Tinnitus meldet sich vor allem in der Stille des Raumes. Nach dem Aufstehen, zum Beispiel. Oder beim Einschlafen. Immer dann, wenn es ruhig geworden ist. So gesehen habe ich noch Glück, denn der Ort, an dem ich neuerdings wohne, ist vieles. Nur still ist er nicht. Fast hätte ich den Tinnitus vergessen, wäre da nicht der stillste Rückzugsort von allen: der Lac Dufresne.
Ein Platz, an dem man der Stille zuhören kann
Am Lac Dufresne liegt unser Blockhaus. Wer der Stille zuhören möchte, liegt hier richtig. Ab und zu mal ein Fisch, der nach einer Mücke schnappt. Oder ein Eichhörnchen, das hungrig am Vogelhaus scharrt. Oder ein Kolibri, der seinen durstigen Zwergenkörper an der eigens für ihn eingerichteten Tränke mit Zuckerwasser betankt. Der sanfte Paddelschwung des Kanufahrers gehört da schon zu den Geräuschen, die auf der nach oben offenen Lärmskala am See ziemlich weit vorne liegen. Motorbootlärm wäre tödlich. Den gibt es gottseidank so gut wie nie.
Wenn Gott lange schweigt, dann will er reden, schrieb die deutsche Dichterin Gertrud von Le Fort (1876-1971). Wenn der See schweigt, sollte auch sonst keiner reden, meint der Blogger. Vor allem sollte sich kein Störenfried im Ohr des Schweigenden breit machen dürfen. Doch genau das passiert in der Stille des Lac Dufresne mit nervensägender Regelmäßigkeit.

Von Stille keine Spur: Moloch Montréal
Das Klingeln im Ohr, das in der Dreieinhalb-Millionen-Stadt allenfalls wie ein sanftes Hämmern auf den Amboss des Lebens wahrgenommen wird, entwickelt sich am See zum Clockwork Orange. Es pfeift und es tutet und es rasselt und es röhrt. Es nervt. Da sehnst du dich doch glatt in deinen Hexenkessel zurück.
Der Tinnitus, der in seiner Intensität gegen die Montréaler Stadtfeuerwehr anstinken kann, muss erst noch erfunden werden.