Trauriger Mann im Glück

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Zwei seiner Kinder hat Montreal besonders lieb: Celine Dion und Leonard Cohen. Die eine lebt die meiste Zeit in Florida, der andere im Tourbus. Jetzt hat Leonard Cohen, „Lenny“ wie mein Zahnarzt seinen Jugendfreund nennt, erstmals nach vielen Jahren einen Konzertstopp in seiner Heimatstadt eingelegt.

Das Wiedersehen mit dem Held meiner späten Jugend in der riesigen Eishockeyhalle war großartig und auch sehr emotional. Nie war kuscheln schöner als zu Bird on the Wire. Calvados im Kerzenschein und im Hintergrund Cohens Famous Blue Raincoat – Gänsehaut! Dance me to the end of love.

Die Lightshow, die Soundeffects, die Wahnsinns-Band – traumhaft. Nicht ein Song, den ich nicht kannte, Melodien, die mich ein Leben lang begleiteten. Gitarren-Akkorde, die ich noch heute im Traum hinkriege. Ohrwürmer und auch Lieder, die den Massenappeal nicht schafften. Gottseidank.

Der „Große Dimmer“ war am Werk

Aber irgendwie war die Verbindung zwischen mir und meinem Hero nicht mehr so richtig da. Abgerissen, als hätte jemand im Laufe der vergangenen Jahre den Stecker gezogen, ohne dass das Licht ausging. Da muss der Große Dimmer am Werk gewesen sein – und ich habe es nicht bemerkt.

Vielleicht liegt es daran, dass wir zwar gleichzeitig älter geworden sind, aber nicht zusammen. Anders als bei den Stones, die eigentlich immer da waren, nie weggingen. Oder der neverending Elton John, der immer irgendwie präsent ist, und sei es beim Lion King.

Vom Zen-Kloster auf Welt-Tournee

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Copyright leonardcohen.com

Leonard Cohen ist heute 78, sein Alterungsprozess hat nicht im Scheinwerferlicht stattgefunden. Er lebte jahrelang zurückgezogen in Kalifornien, auf dem Mount Baldy, wo er sich im Zen-Kloster, wie es schien, auf seinen Lebensabend vorbereitete. Doch dann wurde das jahrelange Meditieren jäh unterbrochen. Cohen war pleite. Seine langjährige Business-Managerin hatte ihn über den Tisch gezogen. Die Millionen waren futsch. Cohen ging wieder auf Tour, füllte sein Bankkonto und tat das, was er schon immer am besten konnte: Machte Menschen mit unglücklichen Liedern glücklich. Und sich selbst auch. Das war auch gestern im Bell Center nicht anders. Lieder von Schmerz und Dunkelheit. Und immer mal wieder ein Anfall von Glückseligkeit. 78 und ein bisschen leise.

„A true Montreal moment“

Und dann, als viele der 15tausend Zuhörer die Hoffnung auf den überspringenden Funken schon fast aufgegeben hatten, tat Cohen das, was im frankokanadischen Montreal immer zieht: Er sang auf Französisch, mit hartem englischen Akzent zwar, aber immerhin. Die Menge tobte, Cohen hatte den Dimmerschalter nach oben gezogen. Reihenweise beleuchtete Handys übernahmen die Feuerzeugfunktion von damals.

Da war sie wieder, die Lampe. Mein Kumpel Doug nennt sowas „A true Montreal Moment„.

Beim Zahnarzt mit Lenny

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Nach dem Zahnarzt ist vor dem Zahnarzt. Ich flosse, putze, gurgle, sorge vor. Und trotzdem würde es durchaus Sinn machen, mich in einer Zahnarztpraxis als Dauermieter einzuquartieren. Ich sei sein liebster Patient, hat mir mein Zahnarzt einmal gesagt. Kein Wunder, wenn die jährlichen Zahnarztkosten höher sind als die Heizungsrechnung.

Der Zahnarzt meines Herzens ist inzwischen 78 Jahre alt und denkt nicht ans Aufhören. Warum sollte er auch? Sein ehemals aufrechter Gang schwächelt zwar ein bisschen, aber den Bohrer führt er noch immer so ruhig wie vor 30 Jahren. So lange kennen wir uns schon. Und würden demografische Erfahrungswerte nicht dagegen sprechen, sähe ich keinen Grund, es nicht noch weitere 30 Jahre mit Dr. F. auszuhalten. Wir sind ein gut eingespieltes Team.

Die Frau, die meine Wurzeln kennt

Auch Pat, die gute Seele an seiner Seite, kennt meine Wurzeln, und sei es nur vom Röntgenbild. Ich gehe zu Wurzelbehandlungen wie andere Leute zum Friseur. Und bezahle treu und brav für jede einzelne Sitzung. Im „besten Gesundheitssystem der Welt“, wie Kanada sein Universal Health Care gerne feiert, hört die Universalität beim Zahnarzt auf. Jeder Cent kommt aus der Tasche des Patienten.

Das Gemeine beim Zahnarzt ist: Anders als beim Friseur, dem man ja bekanntlich viel erzählen kann, hat beim Zahnarzt meistens nur einer das Wort. Und das ist ER. Und weil ich mich gerne von einem lebenserfahrenen Menschen wie Dr. F. unterhalten lasse, während er mir Berge von Zahnstein wegmeißelt, Füllungen verpasst oder auch die eine oder andere Krone, überlege ich mir meistens schon vor dem Termin die eine Frage, die ich ihm heute stellen werde. So gerät der Dialog  zwar wieder zur Einbahnstraße, aber das liegt nun mal in der Natur des Zahnarztbesuchs.

Eine Zahnbehandlung lang Cohen-Talk

Meine Lieblingsfrage ist: „Wie geht’s Lenny?“ Die Antwort dauert in der Regel so lange wie die komplette Zahnbehandlung. Denn über Lenny gibt es viel zu erzählen.

Lenny ist Leonard Cohen, ja, der Leonard Cohen. Er ist mit Dr. F. aufgewachsen, zur Schule gegangen und ein Stück weit auch zur Uni. Doch während Dr. F sich nach den Vorlesungen meistens brav auf den Heimweg ins Villenviertel Westmount machte, ließ es Lenny gerne noch etwas krachen. So gab es an der Avenue de la Montagne zu jener Zeit ein Underground-Café, in dem sich Poeten, Sänger, Maler und andere Bohèmiens nächtelang zu Lesungen, Bier und Mädels trafen, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Manchmal, ganz selten, sei Dr. F. mitgegangen, erzählte er mir mal. Aber das war nicht so richtig seine Welt.

Donnerstagabend schließt sich nun der Kreis, den Dr. F. und ich seit nunmehr 30 Jahren gemeinsam begehen: Ich werde beim Leonard Cohen-Konzert im Montrealer Bell Centre sein.

Lenny live. Muss ich unbedingt meinem Zahnarzt erzählen.

Clockwork Orange im Ohr

Jetzt ist er wieder da, der kleine Mann im Ohr. Vielleicht ist es auch eine Frau. Ich tippe aber eher auf einen Mann. Denn, wenn ich die Frauen in meinem Leben bisher richtig verstanden habe, dann können nur Männer so nerven wie der Tinnitus.

Mann hat es nicht leicht, wenn er sich als 63-Jähriger ins letzte Drittel vorwagt. Zwar sammeln sich im Laufe eines gelebten Lebens jede Menge tolle Erfahrungen an. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass sich mit den Lebensjahren auch an immer mehr Stellen immer mehr nervige kleine Männer ansammeln. Hier ruckt es, dort zupft es und manchmal zwickt’s. Die Zipperlein nerven. Mein Landsmann Leonard Cohen formuliert die körperlichen Ungereimtheiten natürlich charmanter.  „I ache in the places where I used to play“, singt er in Tower of Song.

Das Alter ist völlig überbewertet

In den Ohren tobt das Alter am schlimmsten. Es pfeift und quietscht und manchmal tut es auch weh. Tinnitus nennen Mediziner das. Nicht weiter schlimm, jeder Fünfte in meinem Alter leidet darunter. Aber die Statistik ist ein schwacher Trost. Für mich ist das Pfeifen im Ohr schlicht lästig. Basta. Und überhaupt wird das Alter völlig überbewertet. Außerdem ist es schlicht eine Zumutung.

Der Tinnitus meldet sich vor allem in der Stille des Raumes. Nach dem Aufstehen, zum Beispiel. Oder beim Einschlafen. Immer dann, wenn es ruhig geworden ist. So gesehen habe ich noch Glück, denn der Ort, an dem ich neuerdings wohne, ist vieles. Nur still ist er nicht. Fast hätte ich den Tinnitus vergessen, wäre da nicht der stillste Rückzugsort von allen: der Lac Dufresne.

Ein Platz, an dem man der Stille zuhören kann

Am Lac Dufresne liegt unser Blockhaus. Wer der Stille zuhören möchte, liegt hier richtig. Ab und zu mal ein Fisch, der nach einer Mücke schnappt. Oder ein Eichhörnchen, das hungrig am Vogelhaus scharrt. Oder ein Kolibri, der seinen durstigen Zwergenkörper an der eigens für ihn eingerichteten Tränke mit Zuckerwasser betankt. Der sanfte Paddelschwung des Kanufahrers gehört da schon zu den Geräuschen, die auf der nach oben offenen Lärmskala am See ziemlich weit vorne liegen. Motorbootlärm wäre tödlich. Den gibt es gottseidank so gut wie nie.

Wenn Gott lange schweigt, dann will er reden, schrieb die deutsche Dichterin Gertrud von Le Fort (1876-1971). Wenn der See schweigt, sollte auch sonst keiner reden, meint der Blogger. Vor allem sollte sich kein Störenfried im Ohr des Schweigenden breit machen dürfen. Doch genau das passiert in der Stille des Lac Dufresne mit nervensägender Regelmäßigkeit.

Von Stille keine Spur: Moloch Montréal

Das Klingeln im Ohr, das in der Dreieinhalb-Millionen-Stadt allenfalls wie ein sanftes Hämmern auf den Amboss des Lebens wahrgenommen wird, entwickelt sich am See zum Clockwork Orange. Es pfeift und es tutet und es rasselt und es röhrt. Es nervt. Da sehnst du dich doch glatt in deinen Hexenkessel zurück.

Der Tinnitus, der in seiner Intensität gegen die Montréaler Stadtfeuerwehr anstinken kann, muss erst noch erfunden werden.