Da beginnt dein Tag wie jeder Tag und plötzlich steht er vor dir: Der Mann, der dir seither nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Nein, nicht was Sie denken. Der Mann ist, so weit ich weiss, glücklich verheiratet. Ich bin’s, so weit ich weiss, auch. Und trotzdem lässt mich dieser Mensch nicht mehr los.
Angefangen hatte alles mit einer Kleinanzeige im Internetportal Craigslist. Unser Smart-Cabrio hat seine Schuldigkeit getan. Ein Garagenstellplatz für zwei Autos ist zu wenig. Zweimal Steuer, Versicherung und Reparaturen sind zu viel. Also muss der Kleine gehen, der Große bleibt. Sorry, Baby. Du warst gut zu uns. Aber jetzt trennen sich unsere Wege.
Alain und unser Kleiner: Liebe auf den ersten Blick
Sie trennen sich an dem Tag, an dem Alain in meinem Leben auftaucht. Alain meldet sich schon am frühen Morgen auf die Anzeige bei Craigslist. Kommt, legt einen Packen Scheine auf den Tisch und sagt, jetzt würde er den Kleinen gern mal anschauen. Es war, wie könnte es anders sein, Liebe auf den ersten Blick. Alain ist jetzt Besitzer des besten Autos, das ich je hatte.
Alain ist Anfang fünfzig und „vom Bau“, wie er schon am Telefon sagte. Viel Zeit habe er nicht, meint er. Viel Geld auch nicht. Damit sind die Fronten schon mal geklärt. Den Smart wolle er kaufen, weil er die Schnauze voll habe von der verlogenen Politik, von der Verschandlung der Umwelt, von den Ölkonzernen und von der Abzocke an den Tankstellen generell. Alain will downsizen, so wie wir. Nur ging bei uns die Verkleinerungs-OP vom großen Haus zur kleinen Wohnung. Bei Alain geht sie vom Truck zum Smart.
Auf dem Weg zur Zulassungsstelle erzählt mir Alain ein bisschen von seiner Gegenwart („grün wählen, alles andere taugt nichts“) und viel von seiner Vergangenheit. Vater Uni-Professor, Mutter Lehrerin. Aufgewachsen im feinen Viertel Outremont. Er wird Anthropologe mit abgeschlossenem Studium an einer Montrealer Vorzeige-Uni. Weit gereist, gut im Text, weltgewandt, klug, gebildet.
Erst Anthropologe, dann auf dem Bau
Und jetzt also auf dem Bau. Warum?, will ich wissen. „Karrierewechsel tut gut, sollte Jeder mal tun“, grinst er. Der Mann schafft es, mich am frühen Morgen ins Grübeln zu bringen. Vielleicht hätte ich doch Zauberer werden sollen. Noch ist es nicht zu spät.
Wir reden über Greenpeace und unseren Landsmann, den Öko-Aktivisten Paul Watson („wenigstens einer, der noch genügend Eier in der Hose hat“), über Olympia und die Eurokrise. Über sauren Regen und süße Verlockungen und auch über Frau Merkel und „Mister Schäubl“. Wir reden über Gott und die Wellt. Und würde ich von Allah mehr verstehen, hätten wir auch den mit einbezogen. Alain, der Kerl vom Bau, bringt mich an meine Grenzen.
Stinkefinger für die Ölkonzerne
Wir sitzen jetzt in der Zulassungsstelle in Laval und warten, bis unsere Nummer ausgerufen wird. Alain erzählt derweil von ägyptischen Grabstätten und kyrillischen Schriften, macht einen Schwenk zu Brecht und Vonnegut und freut sich diebisch, dass er jetzt Besitzer eines sechs Jahre alten Sparautos ist und künftig den Ölkonzernen den Mittelfinger zeigen kann. Anschließend verklickert er mir an der Tankstelle noch kurz den chemischen Unterschied zwischen Benzin, Super und Diesel. Und dass man sich von den Oktanzahlen nicht blenden lassen dürfe.
„Wo arbeitest du zurzeit?“, will ich von meinem neuen Bekannten wissen. „In einem Fastfood-Schuppen am Highway 15“. Neue Dunstabzugshaube. Fenster, Fliesen, Heizung, neue Klos. Ordentlicher Job für ordentliche Bezahlung. Bau eben. Alain, die Vielzweckwaffe.
Keine Limonade für Selbstmord-Attentäter
Es ist heiß an diesem Morgen und Alain ist nach Limonade zumute. Aber nicht die Kalorienbomben aus dem Supermarkt. „Die sind für Selbstmord-Attentäter“. Wir fahren zu ihm nach Hause, in die Vorstadt. Die Häuser werden kleiner, die Bäume größer. Irgendwann eine Kirche, einer dieser alten Protzbauten, die aus einer Zeit stammen, als sich die Katholische Kirche nicht schämte, den armen Gläubigen ihre schwer verdienten Kröten aus der Tasche zu ziehen, um sich ein Schlösschen zu bauen. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Alain wohnt im Bestattungsunternehmen
Neben dem Gotteshaus das Leichenhaus. Alains Haus. „Du wohnst im Leichenhaus?“ „War ein guter Deal, damals“. „Ist das nicht ein bisschen spooky, im Leichenhaus zu leben?“ „Nö, gar nicht. Vor Lebenden habe ich mehr Angst als vor Toten“. Und außerdem: Es sei ja seit zwölf Jahren kein Leichenhaus mehr. Alain hat das Bestattungsunternehmen umgebaut zu einem schmucken, wenn auch etwas unproportionierten Vorstadthaus. Die Tiefgarage ist nicht auf Kleinstautos ausgerichtet. Hier wohnten bis vor ein paar Jahren noch schwarze Cadillacs mit Gold-Ornamenten auf dem Kühler und Vorhängen mit feierlichen Blumenmustern vor den dunklen Scheiben. Leichenwagen. Jetzt wohnt dort unser Smart.
Von der Garage in den Wohnbereich führt ein Lastenaufzug. Groß genug für einen Sarg. Das Haus erschlägt dich, so bald du die Tür aufmachst. Riesige Räume, durch Holzstufen voneinander getrennt. Rauf und runter, runter und wieder rauf. Es hört einfach nicht auf. Hier also wurden Trauerreden gehalten und Choräle gesungen. Hier wurde gelobt und gelogen und manchmal kommt nach dem Tod auch die Wahrheit auf den Tisch. Bestimmt wurde in diesen Räumen viel geweint, gejammert, geschmunzelt und manchmal auch gestritten. Im Angesicht des Todes spielt das richtige Leben.
„5212 Tote waren hier im Laufe der Jahre aufgebahrt“, sagt mein Leichenhausführer. Er habe sich vor dem Hauskauf genauestens erkundigt. „Hier wurden sie gewaschen.“ Hier? Ja, hier. Wo jetzt Alains Esszimmer ist und wir hausgemachte Limonade trinken. Und, nein, ich rieche nichts.
Das Haus ist voll mit Memorabilien eines gelebten, gereisten, gelernten Lebens. Kerzenleuchter aus dem Yemen, eine Schatztruhe aus Syrien. Krimskrams aus Peru und Nepal. Der Mann vom Bau scheint sich in der Welt auszukennen.
Engel in allen Erkern und Ecken
„Was ist mit den Engeln?“, will ich wissen. Lebensgroße Engel in jeder Ecke, von jeder Decke. Engel mit Flöten aus Gips und Metall. Marmorengel und Engel mit Pausbacken aus Kupfer oder von mir aus auch Gold. „Die gehören Louise“, sagt der Mann vom Bau. Seiner Frau. Promovierte Literaturwissenschaftlerin mit klugen Gedanken und wenig Zeit.
Louise lässt sich entschuldigen, schickt aus irgend einem Erker ein knappes „Bonjour!“ in die Leichenwaschanstalt.“ Übermorgen ist die Deadline für ihr neues Buch.“ „Deine Frau ist Schriftstellerin?“, fragt der Smart-Verkäufer den neuen Besitzer. „Unter anderem“, sagt der Mann vom Bau, der jetzt dein Auto fährt. „Hauptsächlich unterrichtet sie an der Uni“.
Drei Katzen schleichen sich, wie gerufen, gleichzeitig an. Keine sieht aus wie andere Katzen, die ich kenne. Die Klimaanlage schnurrt. Anders als andere Klimaanlagen, die ich kenne. Sieht aus wie ein Hightech-Gadget, frisch von der Erfindermesse in Las Vegas. „Hab ich mitentwickelt“, sagt der Mann, der anders ist als alle anderen Männer, die ich kenne. Also auch noch Klimaanlagen-Erfinder. Warum bin ich da nicht gleich draufgekommen?
Zwei Stunden später, wieder daheim, boingt es mitten in mein stinknormales Leben. Mail von Alain. „Klasse Auto! Danke für den schönen Tag.“
Wie sagte Forrest Gump nochmal im Film? „Life is like a box of chocolates. You never know what you’re gonna get.“ Das Leben als Wundertüte eben. Und mittendrin ein Mann vom Bau.