Gestatten: Unsere Nachbarn

Zehn Wochen ist es jetzt her, dass wir das Leben auf dem Dorf gegen die Stadt eingetauscht haben. Loft statt Landluft. Radfahren statt Rasenmähen. Ganz ehrlich? Vieles fühlt sich seit dem Umzug leichter an, beschwingter, einfacher. Und auch ein bisschen bunter.

Es sind die kleinen Begegnungen, die das Leben in unserer neuen Umgebung so farbig und freundlich machen:

Da ist Pedro, ein junger chilenischer Banker, der jeden Morgen an unserer Terrasse mit dem gedeckten Frühstückstisch vorbei eilt und nie vergisst, ein freundliches „Hello“, manchmal auch „Bonjour“ oder „Hola!“ zuzurufen. Jeden Sonntag raucht er eine dicke Zigarre, eine Cohiba. Das erinnere ihn an Zuhause, sagt er. Sein Papa in Santiago habe auch Zigarren geraucht. Auch sonntags. Auch Cohibas.

Harlie, die mollige Webdesigerin, die Tag für Tag mit Schutzhelm und Kampfbrille aufs Fahrrad steigt, um in den Krieg gegen Montreals Autofahrer zu ziehen. Warum werde ich den Verdacht nicht los, dass sie ihr Rad nach der täglichen Mountainbike-Parade vor unserem Fenster heimlich in der Tiefgarage abstellt und ins Auto umsteigt?

Vivi, die kleine Chinesin, die jedem ein Lächeln ins Gesicht zaubert, den sie mit Knopfaugen anschaut und dies sicher auch Dutzende Male am Tag macht, wenn sie hinterm Schalter der Royal Bank of Canada steht. In ihrer Freizeit malt Vivi Turnschuhe, alle Arten davon, auch solche, die von nackten Frauen getragen werden. Sie hat viel Damenbesuch.

Alex, einer der „Satay Brothers„, deren Kochkünste neulich selbst das berühmte GQ-Magazin gewürdigt hat, die aber lieber in einer Straßenküche an den Markthallen brutzeln als in irgend einem Edelschuppen. Alex, der mich noch immer mit „Mister Herbert“ anspricht, obwohl ich ihm schon x-mal das du angeboten habe. Alex, der heute, da ich alleine in seiner Marktküche auftauche, fragt: „And where is Mrs. Herbert today?“ Vielleicht ist man in Malaysia, wo Alex herkommt, einfach zurückhaltender als in Montreal, wo das französische „vous“ gar nicht zu existieren scheint und fast jeder mit jedem per du ist.

Dann ist da Guy, den jeder für einen Teenager hält, der aber zwei Kinder hat, 13 und 3, und sich einen Ford Mustang mit Spoiler kaufen würde, wenn nicht das ganze Geld, das er als Hausmeister verdient, in Alimentezahlungen ginge. Guy, der lieber in Deutschland leben würde als in Kanada, weil es dort das angeblich beste Frühstück der Welt gibt: „Beer and sausages„. Hat er jedenfalls so gehört.

Carlos, der Gärtner aus Montevideo. Sorgt dafür, dass der Rasen grün bleibt und die Blumen nicht vertrocknen. Carlos, dem keine Lobeshymne auf die deutsche Nationalmannschaft zu schmalzig ist, der aber trotzdem davon träumt, dass Uruguay eines Tages Fußballweltmeister wird. Liebt seine Blumen so sehr, dass er, weil das Monatsbudget schon aufgebraucht war, nach dem letzten Sturm, ohne Rücksprache mit der Gebäudeverwaltung, aus der eigenen Tasche neue Hibiscuspflanzen gekauft und auf die Dachterrasse gestellt hat. Einfach so.

Rickie, der eigentlich Thi Kieu Thu heißt und jeden Satz mit „écoutez …“ beginnt, dann aber doch lieber Englisch mit mir spricht. In Vietnam geboren, in Frankreich groß geworden, in Montréal zur Schule gegangen und jetzt in St. Henri für den Swimmingpool zuständig, nachdem er einige Jahre in Frankfurt als Staubsaugervertreter unterwegs war. „Ecoutez„, schwärmt er, „these German girls are the best„.

Marina, die seit neun Jahren zwischen Montreal und Auckland hin- und her pendelt. In Montreal ist sie geboren, in Neuseeland hat sie ihr Herz verloren. Liebe sei ein Scheißspiel, sagt sie, und überhaupt „highly overrated„.

David und Julie, eine Terrasse neben uns, beschämen mich mit ihren Traumbodies jeden Tag aufs neue. Sie haben drei Hobbies – Sport, Sport und nochmal Sport – und daraus auch noch einen Beruf gemacht. David unterrichtet Skydiving, eine Mischung aus Fallschirmspringen und Selbstmordversuch. Julie hat es in der Administration einer Fitness-Centre-Kette bis ganz nach oben gebracht. In ihrer Freizeit gibt sie Kinesiologie-Unterricht und zeigt Menschen, wie ein müder Körper wieder geschmeidig werden kann. Ich sollte unbedingt bei ihr buchen.

Wir haben es gut erwischt, mit unserer neuen Nachbarschaft, mit unserer Entscheidung, dem Landleben tschüss zu sagen und kurz vor der Rente noch den Sprung in die große Stadt zu wagen.

Und überhaupt: Was kann denn schon passieren – mit einem Fallschirmspringer gleich nebenan?