Starke Geschichten aus St. Henri

Früher Tabakfabrik, Heute Wohnloft: Imperial Tobacco in St. Henri © Imperial Tobacco

Von Geschichten und Geschichte soll heute im Blog die Rede sein. Und von Menschen, die ihre Freizeit für einen guten Zweck zur Verfügung stellen. Camillo und Anne-Marie sind zwei dieser Menschen. Geschwister aus St. Henri, dem Montrealer Stadtteil, in dem ich wohne. Die Beiden haben mir den schönsten Sonntagnachmittag seit langem beschert.

Kinder von St. Henri © Société historique de Saint-Henri

Getroffen habe ich Camillo und Anne-Marie, beide Mitte 50, im Feuerwehrhaus, gleich neben der Métro-Station Place St. Henri. Im 2. Stock dieses beeindruckenden Gebäudes aus den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts findet zurzeit eine Art Heimatausstellung statt. Gezeigt werden ca. 150 Fotos von Kindern, die in St. Henri groß geworden sind. Camillo und seine Schwester Anne-Marie gehören der Société historique de Saint-Henri an. Das sind Männer und Frauen, die viel Zeit investieren, damit die Vergangenheit ihres Stadtviertels nicht in Vergessenheit gerät.

Ich weiss nicht viel über die beiden Geschwister. Nur, dass Ihre Großeltern aus Italien eingewandert sind und sich in St. Henri niedergelassen haben. Dort gab es zu jener Zeit günstige Wohnungen und ordentliche Jobs. Der Opa war Weichensteller im „Roundhouse“ und dafür verantwortlich, dass die Loks zum Service auf dem „Turntable“  in die entsprechenden Fach-Werkstätten navigiert wurden. Ann-Marie erzählt dies mit so viel Hingabe und Stolz auf das Verantwortungsbewusstsein ihres Großvaters, dass es ihr fast die Tränen in die Augen treibt.

Stripschuppen, Boxhalle, Cabaret – und die schönsten Markthallen in Montréal

Camillo, die andere Hälfte der Historischen Gesellschaft von St. Henri, weiss fast alles, nein: alles, über die Geschichte jenes Stadtteils, den wir uns zum Leben ausgesucht haben. Früher: Arbeiterviertel mit Vaudeville-Theater, Boxhalle und Striplokalen. Heute: Immer noch Arbeiterviertel, aber mit loftigem Publikum, das einige der ehemaligen Fabriken bevölkert. Und, ja, immer noch Vaudeville-Theater, Boxhalle und Stripschuppen. Und die schönsten Markthallen von ganz Montréal.

Barbershop in St. Henri

Ganz in unserer Nachbarschaft standen eine Hemdenfabrik, eine Nähmaschinenfabrik, ein paar Häuser weiter eine Spielzeugfabrik. Fünfhundert Meter Richtung Fluss gab es eine Lackfabrik und dann noch eine für Süßwaren.

Wir wohnen in einer ehemaligen Tabakfabrik, in der zu den besten Raucherzeiten mehr als 3000 Menschen gearbeitet haben. Als das Rauchen uncool wurde und „Made in Canada“ zu teuer, wurden große Teile der Produktionsstätte nach Mexiko verlegt. Geblieben sind mächtige Fabrikationshallen mit Decken so hoch, dass einem schwindlig werden kann, Betondecken, die Rostflecken zieren und hin und wieder auch ein Haken. Fabrikhallen, die liebevoll in schicke Wohnlofts umgebaut wurden.

Nicht weit von hier, an der Rue St. Antoine, steht ein enormes Ziegelgebäude, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Heute habe ich erfahren, dass dort RCA sein Zuhause hatte, einer der größten Grammophonhersteller des letzten Jahrhunderts. Hier wurden nicht nur Schellackplatten gepresst und hochwertige Plattenspieler produziert, sondern auch Hits aufgenommen. RCA unterhielt in dem Ziegelgebäude bei uns um die Ecke eigene Tonstudios.

Der starke Louis stemmt 19 Männer auf einer Plattform

Dass in einem „blue collar„-Viertel wie St. Henri noch Platz für Kreative ist – damals wie heute -, spricht für die breite Palette, die unser „quartier“ zu bieten hat. Der wohl berühmteste Bewohner meiner neuen Heimat war der Jazzpianist Oscar Peterson. Von einem weniger bekannten, dafür umso kräftigeren Zeitgenossen berichtete mir Camillo heute Nachmittag. Louis Cyr hieß der Kerl, der zu seiner Zeit als der stärkste Mensch der Welt galt. Er konnte viereinhalb Zentner mit drei Fingern hochheben. Seine größte Leistung sei es gewesen, eine Plattform zu stemmen, auf der 19 Männer standen.

Für seine Talente wurde Monsieur Cyr im fortgeschrittenen Alter übrigens kräftig belohnt: Mit einer Lebensstellung als Streifenpolizist in St. Henri.

>>> Toller Film des National Filmboard of Canada über St. Henri (1962) <<<

Gestatten: Unsere Nachbarn

Zehn Wochen ist es jetzt her, dass wir das Leben auf dem Dorf gegen die Stadt eingetauscht haben. Loft statt Landluft. Radfahren statt Rasenmähen. Ganz ehrlich? Vieles fühlt sich seit dem Umzug leichter an, beschwingter, einfacher. Und auch ein bisschen bunter.

Es sind die kleinen Begegnungen, die das Leben in unserer neuen Umgebung so farbig und freundlich machen:

Da ist Pedro, ein junger chilenischer Banker, der jeden Morgen an unserer Terrasse mit dem gedeckten Frühstückstisch vorbei eilt und nie vergisst, ein freundliches „Hello“, manchmal auch „Bonjour“ oder „Hola!“ zuzurufen. Jeden Sonntag raucht er eine dicke Zigarre, eine Cohiba. Das erinnere ihn an Zuhause, sagt er. Sein Papa in Santiago habe auch Zigarren geraucht. Auch sonntags. Auch Cohibas.

Harlie, die mollige Webdesigerin, die Tag für Tag mit Schutzhelm und Kampfbrille aufs Fahrrad steigt, um in den Krieg gegen Montreals Autofahrer zu ziehen. Warum werde ich den Verdacht nicht los, dass sie ihr Rad nach der täglichen Mountainbike-Parade vor unserem Fenster heimlich in der Tiefgarage abstellt und ins Auto umsteigt?

Vivi, die kleine Chinesin, die jedem ein Lächeln ins Gesicht zaubert, den sie mit Knopfaugen anschaut und dies sicher auch Dutzende Male am Tag macht, wenn sie hinterm Schalter der Royal Bank of Canada steht. In ihrer Freizeit malt Vivi Turnschuhe, alle Arten davon, auch solche, die von nackten Frauen getragen werden. Sie hat viel Damenbesuch.

Alex, einer der „Satay Brothers„, deren Kochkünste neulich selbst das berühmte GQ-Magazin gewürdigt hat, die aber lieber in einer Straßenküche an den Markthallen brutzeln als in irgend einem Edelschuppen. Alex, der mich noch immer mit „Mister Herbert“ anspricht, obwohl ich ihm schon x-mal das du angeboten habe. Alex, der heute, da ich alleine in seiner Marktküche auftauche, fragt: „And where is Mrs. Herbert today?“ Vielleicht ist man in Malaysia, wo Alex herkommt, einfach zurückhaltender als in Montreal, wo das französische „vous“ gar nicht zu existieren scheint und fast jeder mit jedem per du ist.

Dann ist da Guy, den jeder für einen Teenager hält, der aber zwei Kinder hat, 13 und 3, und sich einen Ford Mustang mit Spoiler kaufen würde, wenn nicht das ganze Geld, das er als Hausmeister verdient, in Alimentezahlungen ginge. Guy, der lieber in Deutschland leben würde als in Kanada, weil es dort das angeblich beste Frühstück der Welt gibt: „Beer and sausages„. Hat er jedenfalls so gehört.

Carlos, der Gärtner aus Montevideo. Sorgt dafür, dass der Rasen grün bleibt und die Blumen nicht vertrocknen. Carlos, dem keine Lobeshymne auf die deutsche Nationalmannschaft zu schmalzig ist, der aber trotzdem davon träumt, dass Uruguay eines Tages Fußballweltmeister wird. Liebt seine Blumen so sehr, dass er, weil das Monatsbudget schon aufgebraucht war, nach dem letzten Sturm, ohne Rücksprache mit der Gebäudeverwaltung, aus der eigenen Tasche neue Hibiscuspflanzen gekauft und auf die Dachterrasse gestellt hat. Einfach so.

Rickie, der eigentlich Thi Kieu Thu heißt und jeden Satz mit „écoutez …“ beginnt, dann aber doch lieber Englisch mit mir spricht. In Vietnam geboren, in Frankreich groß geworden, in Montréal zur Schule gegangen und jetzt in St. Henri für den Swimmingpool zuständig, nachdem er einige Jahre in Frankfurt als Staubsaugervertreter unterwegs war. „Ecoutez„, schwärmt er, „these German girls are the best„.

Marina, die seit neun Jahren zwischen Montreal und Auckland hin- und her pendelt. In Montreal ist sie geboren, in Neuseeland hat sie ihr Herz verloren. Liebe sei ein Scheißspiel, sagt sie, und überhaupt „highly overrated„.

David und Julie, eine Terrasse neben uns, beschämen mich mit ihren Traumbodies jeden Tag aufs neue. Sie haben drei Hobbies – Sport, Sport und nochmal Sport – und daraus auch noch einen Beruf gemacht. David unterrichtet Skydiving, eine Mischung aus Fallschirmspringen und Selbstmordversuch. Julie hat es in der Administration einer Fitness-Centre-Kette bis ganz nach oben gebracht. In ihrer Freizeit gibt sie Kinesiologie-Unterricht und zeigt Menschen, wie ein müder Körper wieder geschmeidig werden kann. Ich sollte unbedingt bei ihr buchen.

Wir haben es gut erwischt, mit unserer neuen Nachbarschaft, mit unserer Entscheidung, dem Landleben tschüss zu sagen und kurz vor der Rente noch den Sprung in die große Stadt zu wagen.

Und überhaupt: Was kann denn schon passieren – mit einem Fallschirmspringer gleich nebenan?

Die große Pumpkin-Parade

Mein Lieblingsmarkt trumpft auf: Kürbisse gehören zu Kanada wie Ahornblätter, Biber oder Grizzlybären. Pumpkins in allen Variationen habe ich gestern auf dem Atwater Market im Stadtteil St. Henri gesehen. Einige der Kürbis-Sorten dienen lediglich zur Dekoration. Dass Pumpkins, Squash, Gourt und andere Gewächse aus der Familie der Cucurbita in diesen Tagen so hoch im Kurs stehen, hat mit zwei bevorstehenden Ereignissen zu tun: Am kommenden Montag wird in Kanada Thanksgiving gefeiert. Drei Wochen später Halloween. Der Händler auf meinem Lieblingsmarkt hat beide Events miteinander verknüpft. Was daraus entstanden ist, erfahren Sie, wenn Sie die Bildergalerie durchklicken.

>>>  15 Kürbis-Rezepte aus Kanada (Englisch)  <<<

Wir krempeln unser Leben um

Der Luxus des Alters: Kind aus dem Haus und gut versorgt. Wir haben die Wahl: Bleibt alles wie’s war? Satteln wir die Harley und lassen es noch einmal richtig krachen? Oder machen wir künftig einen auf klein, aber fein? Wir haben uns für diese Variante entschieden. Unser Haus im Grünen steht nach 24 Jahren zum Verkauf. Wir ziehen in die Stadt. Landleben gegen Loft. Nur: Wie erklären wir unseren Freunden, dass „downsizen“ nichts mit „verarmen“ zu tun hat?

„Brauchst du Geld?“ Diese Frage höre ich in letzter Zeit öfter. Gut gemeint, aber gewöhnungsbedürftig, wenn man als 62-Jähriger mit einem gelebten Leben gefragt wird, ob man ihm ein paar Taler zuschieben soll. Die Wahrheit ist: Danke, uns geht es gut. Die Entscheidung, unser Traumhaus nach 24 Jahren zu verkaufen und dafür in ein schickes Fabrikloft im Montréaler Stadtteil St. Henri zu ziehen, treffen wir nicht aus Geldnot. Wir wollen unser Leben verändern.

Gut gelebt und viel gefeiert: Wir haben uns den Traum vom eigenen Haus erfüllt

Margas 90. Geburtstag

Jeder Traum geht irgendwann zu Ende. Und ein Traum war es für uns damals, ein eigenes Haus mit einem großen Garten zu besitzen. Diesen Traum haben wir uns vor 24 Jahren erfüllt. Das Haus hat jede Menge Zimmer, eine Einliegerwohnung, einen Wintergarten, eine überdachte Frühstücksterrasse, vier Bäder und eine Sauna mit Whirlpool. Der Garten: 4000 qm mit Wald, Wiese und einem kleinen Teich. Hier haben wir gearbeitet, ein Kind großgezogen, dazu zwei Katzen und einen Hund. Wir haben Freunde empfangen, Zauber-Abende und Jam-Sessions veranstaltet. Und ein Gartenfest zum 90. Geburtstag unserer Freundin Marga ausgerichtet, vom dem noch heute das halbe Dorf spricht. Vor allem aber haben wir hier gelebt. Gut gelebt.

Palma, wir kommen!

Und weil wir auch künftig gerne gut leben möchten, ohne die Arbeit und Verantwortung, die so ein großes Haus mit sich bringt, verkleinern wir uns. Mit einer pflegeleichten Stadtwohnung – Tür zu, Schlüssel umdrehen und weg – können wir noch mehr reisen als bisher. Vielleicht auch mal für fünf, sechs Monate in einem anderen Land leben und trotzdem noch arbeiten. Das Internet macht’s möglich. Drei Generalproben verliefen wunderbar: In einer schnuckeligen Wohnung in der Altstadt von Palma de Mallorca haben wir uns jetzt schon mehrfach im Winter einquartiert. Von minus 20 Grad in Montréal ins plus 20 Grad warme Mallorca – ein Traum. Der Blick beim Frühstück auf die Plaza de la Reina, hinüber zur Kathedrale, hinunter zum Meer – Wahnsinn! Life is beautiful.

Das ist die Stunde der Schaulustigen: Mal kucken, wie die Nachbarn leben

Doch Veränderungen können anstrengend sein. Unser Haus wird seit zweieinhalb Monaten von einem Makler gelistet. Das Interesse ist groß. Aber, wie das so ist in Kanada: Es kommen viele Sehleute, die immer schon gerne gewusst hätten, wie der Korrespondent und seine Künstlergattin so leben. Das ist die Stunde der Schaulustigen. Und weil wir nicht gerne Zeuge dieser „showings“ sind und zu jedem Riss im Fensterkitt eine Erklärung abgeben möchten, verlassen wir eben unser Haus, wie es hier so üblich ist, wenn der Makler mal wieder mit Interessenten an der Tür steht. Aber: wohin nur? Meine Kreditkarte glüht. Im Kino reden Sie mich beim Vornamen an und unser Lieblings-Thailänder möchte uns gerne adoptieren. Das sind so die Dinge, mit denen wir uns in letzter Zeit herumschlagen.

Richtige Probleme sehen anders aus. Aber es gibt sie: Wohin mit den Möbeln aus einem Haus, wenn die künftige Bleibe aus einem großen Raum mit einem Badezimmer-Würfel in der Mitte besteht? Was nehmen wir mit, was geht zur Heilsarmee, was kommt in die Blockhütte? Und überhaupt: Was ist mit dem Klavier? Interessenten gibt es jede Menge dafür. Nur: Ich will nicht jedes Mal wehmütig an Musikabende denken müssen, wenn ich künftig Freunde besuche.

Raus aus dem Grünen, rein in die Stadt:  Eine Achterbahn der Gefühle

Neulich habe ich gelesen, dass Immobilienmakler jetzt immer häufiger Psychologiekurse belegen. Ich weiß jetzt warum. Offensichtlich sind wir nicht allein, wenn uns die Emotionen manchmal überwältigen. So ein Hausverkauf kann einem ganz schön die Seele durch den Fleischwolf drehen. Und trotzdem steht die Entscheidung fest: Raus aus dem Grünen, rein in die Großstadt. Das Laub, das sich im Herbst kniehoch auf unserem Grundstück stapelt, sollen künftig andere wegräumen. Und auch der Schneepflug, der die Einfahrt freischaufelt, geht schon bald nicht mehr auf unsere Rechnung. An Bewegung wird es mir hoffentlich trotzdem nicht mangeln: Mein Fitnessbedarf wird künftig im Pool der Dachterrasse abgedeckt, der zum Fabrikloft gehört, oder, wenn’s dann schon sein muss, auch in der Muckibude, gleich neben dem Yoga-Raum.

Und doch kommen sie jetzt immer öfter, die nostalgischen Momente, wenn mal wieder ein potenzieller Käufer vor unserer Haustür steht. „Es sind doch nur ein paar Wände mit einem Dach drüber“, tröstet mich Lore, wenn ich mal wieder wehmütig an den Verkauf denke. Stimmt. Aber genau diese Wände mit dem Dach drüber waren es, die aus unserem Haus ein Heim gemacht haben.

Wildwassersurfer und Papayasalat

Kajaker auf dem Lachine-Kanal

Wenn man seit fast 30 Jahren in derselben Stadt lebt, muss man sich schon etwas überlegen, um nicht in eine touristische Routine zu verfallen. Die Fahrt über den Mont Royal bietet sich immer an. Von dort aus hat man einen begnadeten Blick über die Innenstadt, bis hinter die amerikanische Grenze nach Vermont und New York. Und natürlich gibt es den Botanischen Garten, das Olympiastadion,  die historische Altstadt und das Planetarium. Nicht zu vergessen „Schwartz„, den besten Smoked Meat-Diner im ganzen Land. Wer aber das etwas andere Montréal erleben möchte, das schräge, schrille und, ja, auch das manchmal etwas abgefuckte Montréal, sollte die ausgetretenen Pfade verlassen und sich auf eine Wanderung begeben, die in keinem Reiseführer steht. Kommen Sie einfach mit.

Trendy: Das Quartier St. Henri

Schwenkbrücke und Skyline von Montréal

Wir fangen an im Stadtteil St. Henri, dem ehemals ärmsten der amen Arbeiterviertel von Montréal. Heute gehört St. Henri zu den trendigsten „Quartiers“ der Stadt. Die Mischung aus stillgelegten Fabrikanlagen und Lagerhäusern,  Stripschuppen und ehemaligen Boxkneipen, Tante-Emma-Läden, Szenenbars und schicken Lofts hat St. Henri den Ruf als das Montréaler In-Viertel schlechthin eingebracht. Das Herz von St. Henri ist der Atwater Market, eine Markthalle nach Pariser Vorbild. Sie liegt ganz in der Nähe des Lachine-Kanals, der in den St.-Lorenz-Strom führt. Noch bis 1970 verkehrten hier Frachtkähne, die Kohle, Erz, Getreide und Metall in die Großen Seen beförderten, oder sogar bis nach Europa. Heute hat der „Canal Lachine“ keine wirtschaftliche Bedeutung mehr. Dafür tummeln sich jetzt Kanus, Kajaks, Motor- und Tretboote im nicht sehr appetitlichen Wasser.

Lecker: Papayasalat und Braised Pork

Wie sehr uns der Ausgangspunkt unserer Wanderung, der Atwater Market, immer wieder fasziniert, zeigt ein Blick auf den Entfernungs-App im iphone. Wir sind gerade mal 830 Meter gewandert, aber schon eineinhalb Stunden unterwegs. Schuld daran sind die offenen Sommerküchen vor der riesigen Markthalle. Eine davon interessiert uns ganz besonders. Die drei „Satay Brothers“ sind asiatische Jungs aus St. Henri. Sie betreiben die Brutzelstube zusammen mit ihrer Mutter. Für sechs Dollar gibt’s einen wunderbaren Papaya-Salat mit Erdnüssen und frischem Koriander. Etwa gleich wenig kostet das „Braised Pork Sandwich“ mit Kohlsalat und einer Chilisauce – lecker. Noch ein Teilchen vom besten Bäcker der Stadt – und die Wanderung kann erst so richtig losgehen.

 Exquisit: Die Wohnwaben von „Habitat 67“

Habitat 67: Schöner Wohnen in der Wabe

Vorbei an ausgemusterten Fabrikhallen und Lagerhäusern, unter Schwenkbrücken hindurch, deren Mechanismus seit 30 Jahren eingerostet ist, geht es ca. 5 Kilometer dem Lachine-Kanal entlang. Links das unerhört tolle Panorama der Innenstadt, hinter die sich massig der Hausberg von Montréal türmt, der Mont Royal. Vorbei auch an der Malzfabrik und der „Five Roses„-Mühle mit den riesigen Getreidesilos. Ein Stück geht’s noch am Hafen entlang, bis rechts die Wohnanlage „Habitat 67“ auftaucht. Dieses wabenförmige Bauwerk ist architektonisch einmalig. Der damals erst 26jährige Architekturstudent Moshe Safdie aus Haifa hatte den Koloss aus Glas und Beton 1967 für die Weltausstellung „Man and his World“ entworfen. Obwohl Wind und Wetter dem faszinierenden Wohnkomplex heftig zugesetzt haben, gehören die exquisiten Wohnwaben auch heute noch zu den ungewöhnlichsten Bauwerken der Neuzeit.

Wildwasser-Surfen auf dem St. Lorenz-Strom

Unmittelbar hinter dem spektakulären Bau verläuft der St-Lorenz-Strom. Dort, wo der bis zu vier Kilometer breite Fluss am wildesten ist, geht so richtig die Post ab. Die reißende Strömung ist an dieser Stelle von der Straße aus so gut wie nicht zu sehen und schon deshalb ein absoluter Geheimtipp für Surfer und Wildwasser-Kajakfahrer. Wenn da nicht ab und zu Sehleute wie wir vorbei kämen.

Wahnsinn: Eine Insel aus 15 Millionen Tonnen Erdaushub

Weiter geht’s über die Casino-Brücke auf die Île Notre-Dame, eine künstliche Insel im St-Lorenz-Strom. Sie war in den 60er-Jahren entstanden, nachdem die Stadt beim Bau der Montréaler U-Bahn nicht mehr wusste, wohin mit 15 Millionen Tonnen Erdaushub. In zehn Monaten war die Insel fertig. Heute beherbergt sie den Circuit Gilles Villeneuve, bekannt als die Formel-Eins-Rennstrecke, auf der jeden Sommer der Große Preis von Kanada ausgetragen wird.

Blick von der Brücke: Skyline von Montréal

Einen Besuch im Casino, unmittelbar an der Rennstrecke, ersparen wir uns. Dafür geht’s schnurstracks und immer noch zu Fuß weiter am St.-Lorenz-Strom entlang, bis zur Île Sainte-Hélène. Der Weg führt durch einen kleinen Märchenwald mit einer grottenartigen Wasserlandschaft, vorbei am größten Schwimmbad der Stadt bis hin zu La Poudrière. Das ist ein ehemaliger Pulverturm; in den 50er-Jahren wurde dort das semiprofessionelle Deutsche Theater Montréal gegründet. Den Vergnügungspark La Ronde können wir getrost links liegen lassen. Der Kick, der uns jetzt bevorsteht, bietet mehr Thrill als jede Achterbahn.

Brücken-Thrill: Besser als jede Achterbahnfahrt

Die Jacques-Cartier-Brücke

Wir überqueren den St.-Lorenz-Strom über die Jacques-Cartier-Brücke. Diese monströse Metallkonstruktion, benannt nach dem Entdecker Kanadas, ist mehr als 2.6 Kilometer lang und erreicht in der Mitte die Höhe des Ummendorfer Kirchturms, schwindelerregende 66 Meter. Wir haben Glück: Von der höchsten Stelle aus sehen wir direkt auf ein bulliges Frachtschiff die Brücke passieren. Leider kein Smutje, der Kartoffeln schält und auch von einem Gitarre spielenden Matrosen keine Spur. Seefahrer-Romantik geht anders. Dass Fußgänger und Radfahrer einen oben offenen, fast kavernenartigen Eisenkäfig passieren müssen, um ans andere Brückenende zu gelangen, hat einen eher tragischen Hintergrund: Bis zum Bau des Sicherheitsgeländers hatten sich jedes Jahr bis zu zehn Menschen durch einen Sturz von der Brücke das Leben genommen.

Langsam und auch ein bisschen träge bewegen wir uns jetzt in Richtung Innenstadt. Im Stadtteil Hochelaga (politisch inkorrekt: Gay Village) setzen wir uns zum people-watching den Drugstore, eine Kneipe, die eigentlich aus zwei Kneipen besteht: Links die Getränke, rechts die Speisen. Jeweils ein Kellner kommt an unseren Tisch, der eine bringt den Wein, der andere die Fritten. Auch abgerechnet wird hinterher getrennt. „Zahlen bitte!“ im Doppelpack.

Grafitto auf der Rue Ontario

Sechzehn Kilometer zeigt der Streckenmesser inzwischen an. Es sind gut fünf Stunden vergangen seit unserem Auftaktsbesuch in der Markthalle. Die letzten vier Kilometer schleppen wir uns bei immer noch 28 Grad durch die Innenstadt, deren Skyline wir noch kurz zuvor stundenlang vom anderen Flussufer aus gesehen hatten. Die rush hour hat begonnen. Nichts wie weg hier, zurück nach St. Henri. Dorthin, wo unser Auto steht und die alten Fabriken vor sich hin schlummern und die Satay-Brothers gerade den nächsten Papaya-Salat servieren.

>>>   Bildergalerie: Schräge Stadtwanderung durch Montréal  <<<