Es gibt Menschen, die blitzen nur ganz kurz in deinem Leben auf. Dann tauchen sie wieder ab und du hörst nie wieder von ihnen. Trotzdem hinterlassen sie einen Lichtschweif, der nie mehr ganz erlischt. So ein Mensch ist Alain. Ich habe ihn vor etwa 15 Jahren in einer Montréaler Suppenküche getroffen. Er hatte dort einen Obdachlosen-Chor gegründet.
In Paris hatte Alain als Zahntechnikermeister gearbeitet. Dort lernte er eine Montréalerin kennen. Als die junge Frau wieder nach Kanada zurück ging, war es schon zu spät: Alain hatte sich hoffnungslos in sie verliebt.
Er kündigte seinen Job und flog nach Montréal. Dort war er fest entschlossen, ein neues Leben zu beginnen. Doch wie das Leben manchmal so spielt: Die Liebe kam und ging. Und irgendwann stand Alain alleine da. In einer fremden Stadt. Ohne die Liebe seines Lebens. Nach Frankreich wollte er nicht mehr zurück. Was würden denn die Freunde sagen?
Der Pariser Zahntechnikermeister in der Montréaler Suppenküche
Also blieb er in Montréal, jobbte mal hier, mal da. Und fand irgendwo nicht mehr so richtig seine Mitte. Bis er eines Tages in der Suppenküche auftauchte, drunten am alten Hafen. Dort gründete der Franzose einen Obdachlosenchor. Über die Geschichte von Alain und seine neuen Freunde in der Suppenküche habe ich damals einen Film fürs deutsche Fernsehen gemacht. Den Film möchte ich aus Gründen der Diskretion hier nicht einstellen. Die Namen habe ich geändert. Nicht jeder, der damals auf der Straße lebte, hätte heute seine Freude daran, sich Jahre später im Internet wieder zu finden. Deshalb gibt’s eben nur den Film-Text:
Noch vor zweieinhalb Jahren war Jeannot ein Wohnsitzloser – einer von gut fünftausend, die es in Montréal gibt. Und wie die meisten Penner, streunte auch er tagsüber bettelnd durch die Dreieinhalb-Millionenstadt. Nachts schlief er auf Parkbänken oder überm U-Bahn-Schacht. Im harten kanadischen Winter schaufelte er sich oft eine Kuhle in den Schnee und deckte sich zu: mit Schnee – wie ein Bär, der Schutz vor Wind und Wetter sucht. Doch dann, kurz vor Weihnachten 1996, veränderte sich das Leben des Mannes, den seine Freunde “Nota” nennen. Jeannot fing an, im Montréaler Obdachlosenchor zu singen.
Zwei Dutzend Männer – der jüngste 26, der älteste 67 – tingeln seither durch Montréal. Zu verdanken haben die Mitglieder des Obdachlosenchors ihr neues Leben diesem Mann: Alain, 32 Jahre alt, gebürtiger Franzose. Er war von Paris nach Montréal gekommen, um die Liebe seines Lebens zu besuchen. Doch die Liebe hielt nicht lange. Alain, ein tief religiöser Mann, suchte Zerstreuung, wollte Gutes tun.
30 Männer Meldeten sich zur Chorprobe an. Einer ist gekommen.
In der Suppenküche konnte man so einen wie ihn gebrauchen. Zunächst verteilte er Essen an die Hungernden. Irgendwann kam ihm der Gedanke, einen Gesangverein zu gründen. Chor-Erfahrung hatte er bereits in Paris gesammelt. Alain erinnert sich: “Zur ersten Probe hatten sich dreißig Männer angemeldet. Gekommen ist dann einer. Beim zweiten Mal waren es schon vier. Beim dritten Treffen hatten wir schon einen richtig kleinen Chor beinander.”
Geprobt wird in einem Übungsraum über der Suppenküche. Mit Obdachlosen zusammenzuarbeiten, kann eine Herausforderung sein. Die Bedingungen, die Alain an seine Sänger stellt, sind immer die gleichen: “Pünktlichkeit. Nüchtern sein. Sauberes Auftreten: Weißes Hemd, schwarze Hose.” Klamotten gibt’s bei der Heilsarmee.
Auch Antoine war eine Zeitlang Mitglied im Chor. Doch Alkohol und Drogen machten seine Sängerkarriere zunichte. Er konnte sich der Disziplin des Chorleiters nicht unterordnen, sagt er: Heute bestreitet Antoine das, was er “eine Solokarriere” nennt.
Nicht so Jeannot. Er ist dabeigeblieben. Sein Leben hat sich durch den Chor grundlegend geändert. Sein Wiedererkennungswert im Stadtbild von Montréal ist hoch. Fast gönnerhaft lässt er mal hier, mal dort einen Quarter springen. Payback-Time für einen, mit dem es das Schicksal gut gemeint hat. Seit kurzem bewohnt Jeannot sein eigenes Apartment. 175 Dollar kostet es pro Monat. Knapp hundert bleiben ihm von seinen Auftritten. Der Rest kommt von der Sozialhilfe. Gegessen wird noch immer in der Suppenküche – nicht mehr, wie früher, an einem Tisch mit dem „hungrigen Volk“, wie er sagt.
Michel singt „fast wie Pavarotti“. Fehlt nur noch der Schal.
Wer im Chor singt, hat es in der Penner-Hierarchie zu etwas gebracht. Über die kleinen Starallüren darf geschmunzelt werden: “Die Stimme von Pavarotti hatte ich schon”, sagt Michel, “was noch fehlte, war der dazugehörige Schal.” Den schenkte ihm ein weiblicher Fan.
Der Chor kann sich schon bald vor Engagements kaum noch retten. Die Männer singen bei Wohltätigkeitsveranstaltungen und Weihnachtsfeiern. Im Hochsicherheitsgefängnis eines Zuchthauses traten sie vor Lebenslänglichen auf. In Waisenheimen und Krankenhäusern erfreuen sie Junge und Alte. Doch ihr Heimspiel geben sie immer wieder in der Montréaler Métro.
Manuela ist das, was man Groupie nennt. “Vor zwei Jahren”, sagt die Frau, „stand ich genau an dieser Stelle und hörte dem Chor zu.” Heute ist sie mit Carlos, dem Bongospieler, verheiratet. “Früher hatte ich immer Männer, die Geld hatten, aber sonst nichts.” “Heute”, sagt Manuela, “heute hab’ ich einen, der kein Geld hat – dafür aber ein großes Herz.”
„Sie sind fröhlich. Und vor allem: Sie singen!“
Der Mann mit dem wohl größten Herz ist jedoch Alain. Seinem Job als Zahntechniker geht er nur noch stundenweise nach. Der Chor vereinnahmt ihn total: Eine ehrenamtliche Sekretärin hilft ihm bei der Terminplanung. Im vorigen Jahr reiste der Chor auf Einladung einer Airline nach Paris. Die Montréaler Sänger wurden als Stars gefeiert. Und keiner freut sich mehr über den Erfolg als Alain. “Alle sind sehr glücklich im Chor. Sie sind nicht schmutzig. Sie sind sauber. Sie sind nicht betrunken, sondern nüchtern. Sie sind nicht gewalttätig, nicht traurig. Sie sind fröhlich -– und vor allem: Sie singen!”
Nachtrag: Der Montréaler Obdachlosenchor hat sich inzwischen aufgelöst. Wo Alain heute lebt und was er macht, weiß ich nicht. In der Suppenküche kann sich kaum noch jemand an den Franzosen und seinen Chor erinnern. Ein Jammer.
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