Gefangen in der Eisfalle

„Ice Storm“. Kaum ein anderes Wort der englischen Sprache flößt mir mehr Angst ein. Als gestern im Fernsehen wieder die roten Banner mit dem Wort „Freezing Rain Warning“ aufblinkten, holte mich meine Vergangenheit ein. Ich musste mit Gänsehaut an den Eissturm von 1998 denken.

Es war die schlimmste Naturkatastrophe in der Geschichte Kanadas. 28 Menschen starben. Tausend wurden verletzt. Als der Eissturm seinen Höhepunkt erreicht hatte, waren mehr als eine halbe Million Menschen ohne Strom und damit ohne Heizung. Bis zu drei Wochen lang.

Diesmal sind wir von einer Katastrophe verschont geblieben. Aber es war knapp. Es gab auch in der vergangenen Nacht Tote und Verletzte. Aber bei Verkehrsunfällen auf eisglatten Straßen. Kein Tod durch Erfrieren.

Hunderttausende flüchteten in Notaufnahmelager

1998 war das anders. Das Eis brachte zentimeterdicke Elektroleitungen wie Bindfäden zum Reißen. So etwas hatten bis dahin selbst die wettererprobten Kanadier noch nie erlebt. Hunderttausende flüchteten sich vor der Kälte in Notunterkünfte. Dort sorgten Dieselgeneratoren für Wärme – Stromerzeugungsmaschinen, wie sie in Privathaushalten bis dahin nahezu unbekannt waren. Not kann ein guter Lehrer sein. Im darauffolgenden Winter setzte ein regelrechter Run auf Generatoren ein. Aber auch auf Holz- und Gasöfen, auf Kerzen und Batterien, auf Daunendecken und Schlafsäcke.

Der Horror-Winter-98 hat nicht nur das Bewusstsein vieler Kanadier verändert. Mit seiner brachialen Gewalt hat er auch die Landschaft verschandelt: Baumkuppen fehlten plötzlich, massenweise Äste krachten unter der Last des Eises zusammen. Als das Schlimmste vorüber war, sah es aus, als wäre ein überdimensionaler Rasenmäher über Wälder, Parkanlagen und Gärten hinweggefegt. Bis heute haben sich die Wälder nie mehr richtig von dieser Katastrophe erholt.

Lore gehörte damals zu denen, die mit am schlimmsten betroffen waren: In unserem Haus gab es zwei Wochen keinen Strom, keine Heizung, zeitweise kein Trinkwasser. Als das Schlimmste vorbei war, wurde sie noch von herabfallenden Eismassen verletzt.

Lore war zu dieser Zeit allein in unserem Haus. Ich war gefangen in meinem Büro in der Montréaler Innenstadt. Cassian, damals elf, war bei mir. Ich hatte ihn von der Schule abgeholt und wollte am Abend nach Hause fahren. Der Eissturm machte unsere Wochenendpläne zunichte. Wegen der umgestürzten Elektromasten herrschte in Montréal der Ausnahmezustand. Das Militär riegelte die Stadt hermetisch ab. Es gab kein Entweichen. So verbrachten Cassian und ich fünf Tage in einem 45 Quadratmeter großen Büro. Lore kümmerte sich derweil um unser Haus auf dem Land. Ohne Strom. Ohne Heizung. Ohne Wasser. Einzige Wärmequelle war der offene Kamin. Tagelang bestand der Speiseplan aus Tee und Dosensuppen.

Cassian und ich hatten es in der Stadt besser. Aber nur ein bisschen. Ein  24stöckiges Bürogebäude kühlt auch ohne Heizung nicht so schnell aus wie ein alleinstehendes Einfamilienhaus. Schlaf gab es noch weniger als Essen. Tag und Nacht berichtete ich live für die ARD-Sender über „das Leben im Gefrierfach“. Ein Glück: Das Telefon funktionierte vom ersten bis zum letzten Tag.

Als das Schlimmste schon fast vorbei war und die Familie wieder komplett, meldete sich ein RTL-Fernsehteam an. Eine Kollegin mit Sitz in New York besuchte die Wilden Deutschen im Busch. Ein bizarres Bild: Sie kam im Manhattan-Look. High Heels inclusive. Wir hatten noch nicht einmal Strom. Ihr gebräunter Kameramann, ein freundlicher Australier, drehte unentwegt „Szenen aus der Eisfalle“. So nannte RTL die Dokumentation später.

Die Hauptrollen spielten drei traurige Gestalten und ein Hund.