Warten und Bangen im Eissturm

cbcDie Koffer sind gepackt, die Plätze im Flieger reserviert. Alles prima – nur das Wetter nicht. Ein Eissturm hat die Stadt meines Herzens heimgesucht. Ausgerechnet am Tag unserer Abreise nach Mallorca herrschen auf dem Montrealer Airport chaotische Zustände. Praktisch jeder Flug hat Verspätung, mehr als die Hälfte aller Abflüge wurden seit dem frühen Morgen ganz gestrichen.

Mallorca oder doch noch Montreal? Das wird sich im Laufe der nächsten Stunden entscheiden. Bis kurz nach 17 Uhr EST hat Petrus Zeit, sich noch einmal zu berappeln. Sollte der Air Canada-Flieger nach Frankfurt nicht rechtzeitig den Aéroport Pierre Trudeau verlassen, wäre unser Weiterflug nach Palma in Gefahr.

Ach ja, Kanada und das Wetter. Müsste ich nach mehr als 30 Jahren Bilanz ziehen über die Pros und Kontras des Lebens hier, stünde ganz oben das Wetter. Sowohl auf der Pro- als auch auf der Kontra-Seite. Beständige, heiße Sommer mit atemberaubend schönen Herbsttagen am Seeufer würden die FÜR-Chronik schmücken. Schmuddelige Frühlingstage mit schmutzigen Eisplacken und Schmelzwasserseen auf den Straßenkreuzungen stünden auf der GEGEN-Seite.

Und immer wieder Eisregen im Winter. Vor allem in den letzten Jahren hat die Zahl derbannertrip Tage, die nicht Fisch sind und auch nicht Fleisch, drastisch zugenommen. War es zu Beginn meiner Kanada-Zeit beschlossene Sache, dass der Winter klirrend kalt und der Sommer glühend heiß ist, schlägt das Klimapendel inzwischen aus, wie es will. In diesem Teil Kanadas ist Eisregen mehr als nur ein lästiges Wetterphänomen. Der Strom kommt aus dem Norden, die Fernleitungen verlaufen über der Erde. Bilden sich auf den Kabeln dicke Eisschichten, reissen die Leitungen. Die Folge: Die riesigen Masten knicken um wie beim Mikado.

So schlimm ist es im Augenblick noch nicht. Gut 150.000 Menschen sind derzeit ohne Strom. Anders als vor 17 Jahren. Damals saßen eine halbe Million Haushalte bis zu drei Wochen in der Kälte und im Dunkeln. 28 Menschen starben.

Also doch ein Luxusproblem, der Eisregen von heute? Schon. Und doch muss man sich mit ihm auseinandersetzen. Fast kommt es mir vor, als würde uns Petrus noch einmal den Mittelfinger zeigen, ehe wir dem kanadischen Winter in Richtung Spanien entfliehen.

Überleben in der Wildnis

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Stromausfall am frühen Morgen. Die Kerzen müssen rationiert werden, das Verfallsdatum der Batterien für die Taschenlampe lautet: September 2001. Das mit der Vorsorge haut auch nicht mehr so hin wie kurz nach dem katastrophalen Eissturm von 1998.

Damals war Millionen Quebecern vor Schreck das Blut in den Adern geronnen.  Wochenlang mussten sie – also wir – ohne Heizung, ohne Elektroherd, ohne warmes Wasser und selbst ohne Bargeld aus dem Bankautomat auskommen. Nichts ging mehr. Auch die Zapfsäule an der Tankstelle hatte das Pumpen eingestellt. Zentimeter dicke Eisschichten hatten die Überlandleitungen der ganzen Provinz zum Knicken gebracht.

15 Jahre nach dem Großen Eissturm: Wieder im Dunkeln

Und jetzt, 15 Jahre später? Sitze ich wieder im Dunkeln. Der Kaffee wird mit lauwarmem Wasser aufgebrüht, das der Holzofen nach einstündigem Warten nur widerborstig auf Zimmertemperatur gebracht hat. Und überhaupt neigt sich der Holzvorrat dem Ende zu. Diese Zeilen tippe ich auf dem schwindsüchtigen MacBook, der langsam Hunger hat. Noch operiert er bei 52 Prozent. Bei 30 werde ich den Deckel zuklappen. Wer weiss, was noch alles getippt werden muss, das wirklich wichtig ist.

Diesmal erleben wir den Stromausfall nicht im Eigenheim. Wir haben uns in die Blockhütte gewagt, zwei Stunden nördlich von Montreal. Hier wollten wir dem Halloween-Zirkus in der Stadt aus dem Weg gehen. Und überhaupt: Was gibt es Schöneres, als von der City aufs Land zu fahren und dort vom Küchenfenster aus dem See beim Wellengang zuzusehen.

Sagte ich Weltuntergang? Einen Sturm wie diesen gab es seit zehn Jahren nicht mehr, las ich kurz vor dem Blackout noch im Handy.

Dem Wellengang habe ich nun stundenlang zugesehen, das Ruderboot, das der Wind wegzublasen drohte, ist sturmfest versorgt. Von mir aus könnte jetzt wieder Schluss sein mit dem ganzen reduzierten Hüttenzauberkram.

Gefällte Bäume über dem Wanderpfad

Klar, ich könnte zum Auto wandern und in die große Stadt zurück. Aber eine Zufahrt zum Blockhaus gibt es nicht und der Wagen steht hoch oben auf dem Berggipfel geparkt, unsere Hütte liegt auf See-Ebene. Der Weg nach oben ist beschwerlich und führt durch einen Wald. Vermutlich liegen gefällte Bäume kreuzweise über dem Wanderpfad. Also bleiben wir hier. Lesen, warten, lesen, reden, warten.

Genau so wollten wir es, als wir diese Cottage vor 16 Jahren erstanden haben. Die Natur wollten wir am Bauch kitzeln und dem Schicksal in den Hintern treten, sollte es uns dann tatsächlich einmal herausfordern. Ist ein mehrstündiger Stromausfall eine echte Herausforderung? Eher nicht.  Also lesen wir und schreiben und lesen und warten. Und machen es uns nett.

Der „Survival Spirit“ schwindet dahin

Trotzdem zweifle ich an Tagen wie diesen an meinem Überlebensgeist. Vieles von dem, was ich mit 30, 40 oder von mir aus auch 50 noch sportlich gesehen habe, wird mir lästig. Achtung! Opa erzählt jetzt kurz vom Krieg: „Lasst euch sagen, Kinder, mit fast 65 lässt der Survival Spirit nach!

Warum soll ich Feuerholz den Berg hoch oder runter schleppen, nur damit ich es warm habe? Hat der liebe Gott nicht genau dafür die Heizung erfunden und den Elektroherd?

Und während ich meinen Logenplatz verfluche, von dem aus ich zusehe, wie der Sturm einen Baumstamm über dem Lac Dufresne vor sich hintreibt, flackert verheißungsvoll die einzige Lampe im Haus. Hurra, der Strom ist wieder da! Und geht Sekunden später wieder aus …

Margas Geheimrezept bei Katastrophen: Suppe hilft immer!

Aber dann, genau drei Stunden und 20 Minuten, nachdem der  Strom sich verabschiedet hatte, geht das Licht wirklich wieder an. Jetzt nichts wie dem Rechner Stoff geben, das Handy aufladen, Kaffee machen, Suppe kochen. „Suppe auf dem Holzofen ansetzen!“, hat unsere Freundin Marga oft gesagt, ehe sie vor ein paar Wochen gestorben ist, „Suppe kochen ist Pflicht, wenn der Strom ausfällt“. Suppe hält warm und macht satt.

Marga musste es wissen, sie ist 93 Jahre alt geworden und hat mehr Stromausfälle erlebt als uns voraussichtlich noch bevorstehen.

Achtung, unkorrigiert! Kurz nach dem Einstellen dieses Blogposts wieder Stromausfall. Der MacBookAir ist jetzt bei 28 Prozent. Klappe zu und tschüss.

Gefangen in der Eisfalle

„Ice Storm“. Kaum ein anderes Wort der englischen Sprache flößt mir mehr Angst ein. Als gestern im Fernsehen wieder die roten Banner mit dem Wort „Freezing Rain Warning“ aufblinkten, holte mich meine Vergangenheit ein. Ich musste mit Gänsehaut an den Eissturm von 1998 denken.

Es war die schlimmste Naturkatastrophe in der Geschichte Kanadas. 28 Menschen starben. Tausend wurden verletzt. Als der Eissturm seinen Höhepunkt erreicht hatte, waren mehr als eine halbe Million Menschen ohne Strom und damit ohne Heizung. Bis zu drei Wochen lang.

Diesmal sind wir von einer Katastrophe verschont geblieben. Aber es war knapp. Es gab auch in der vergangenen Nacht Tote und Verletzte. Aber bei Verkehrsunfällen auf eisglatten Straßen. Kein Tod durch Erfrieren.

Hunderttausende flüchteten in Notaufnahmelager

1998 war das anders. Das Eis brachte zentimeterdicke Elektroleitungen wie Bindfäden zum Reißen. So etwas hatten bis dahin selbst die wettererprobten Kanadier noch nie erlebt. Hunderttausende flüchteten sich vor der Kälte in Notunterkünfte. Dort sorgten Dieselgeneratoren für Wärme – Stromerzeugungsmaschinen, wie sie in Privathaushalten bis dahin nahezu unbekannt waren. Not kann ein guter Lehrer sein. Im darauffolgenden Winter setzte ein regelrechter Run auf Generatoren ein. Aber auch auf Holz- und Gasöfen, auf Kerzen und Batterien, auf Daunendecken und Schlafsäcke.

Der Horror-Winter-98 hat nicht nur das Bewusstsein vieler Kanadier verändert. Mit seiner brachialen Gewalt hat er auch die Landschaft verschandelt: Baumkuppen fehlten plötzlich, massenweise Äste krachten unter der Last des Eises zusammen. Als das Schlimmste vorüber war, sah es aus, als wäre ein überdimensionaler Rasenmäher über Wälder, Parkanlagen und Gärten hinweggefegt. Bis heute haben sich die Wälder nie mehr richtig von dieser Katastrophe erholt.

Lore gehörte damals zu denen, die mit am schlimmsten betroffen waren: In unserem Haus gab es zwei Wochen keinen Strom, keine Heizung, zeitweise kein Trinkwasser. Als das Schlimmste vorbei war, wurde sie noch von herabfallenden Eismassen verletzt.

Lore war zu dieser Zeit allein in unserem Haus. Ich war gefangen in meinem Büro in der Montréaler Innenstadt. Cassian, damals elf, war bei mir. Ich hatte ihn von der Schule abgeholt und wollte am Abend nach Hause fahren. Der Eissturm machte unsere Wochenendpläne zunichte. Wegen der umgestürzten Elektromasten herrschte in Montréal der Ausnahmezustand. Das Militär riegelte die Stadt hermetisch ab. Es gab kein Entweichen. So verbrachten Cassian und ich fünf Tage in einem 45 Quadratmeter großen Büro. Lore kümmerte sich derweil um unser Haus auf dem Land. Ohne Strom. Ohne Heizung. Ohne Wasser. Einzige Wärmequelle war der offene Kamin. Tagelang bestand der Speiseplan aus Tee und Dosensuppen.

Cassian und ich hatten es in der Stadt besser. Aber nur ein bisschen. Ein  24stöckiges Bürogebäude kühlt auch ohne Heizung nicht so schnell aus wie ein alleinstehendes Einfamilienhaus. Schlaf gab es noch weniger als Essen. Tag und Nacht berichtete ich live für die ARD-Sender über „das Leben im Gefrierfach“. Ein Glück: Das Telefon funktionierte vom ersten bis zum letzten Tag.

Als das Schlimmste schon fast vorbei war und die Familie wieder komplett, meldete sich ein RTL-Fernsehteam an. Eine Kollegin mit Sitz in New York besuchte die Wilden Deutschen im Busch. Ein bizarres Bild: Sie kam im Manhattan-Look. High Heels inclusive. Wir hatten noch nicht einmal Strom. Ihr gebräunter Kameramann, ein freundlicher Australier, drehte unentwegt „Szenen aus der Eisfalle“. So nannte RTL die Dokumentation später.

Die Hauptrollen spielten drei traurige Gestalten und ein Hund.