Schlange stehen für den Hausarzt

Foto: TheGazette

Das Foto oben zeigt eine Menschenschlange vor einer Arztpraxis in der Gemeinde St. Lazare, ganz bei mir in der Nähe. Viele der Männer und Frauen stehen schon seit vier Uhr morgens an. Mitten im kanadischen Winter, der deutsche Temperaturen wie T-Shirt-Wetter dastehen lässt.

Diese Menschen haben nicht etwa einen Termin beim Arzt. Sie warten darauf, wenigstens in die Kartei des Arztes aufgenommen zu werden, der sich vor ein paar Tagen hier niedergelassen hat. Der Ärztemangel in der Provinz Québec wird immer dramatischer. Einen Hausarzt zu haben, ist fast wie ein Sechser im Lotto.

3000 Anrufe habe sie in der Woche vor der Praxiseröffnung erhalten, erzählt die Sprechstundenhilfe des Arztes Dr. Harrison, die gleichzeitig seine Frau ist. Und alle baten sie, in die Kartei aufgenommen zu werden. Sie haben keinen Hausarzt. Manche hatten in ihrem ganzen Leben noch keinen. Andere haben ihren „family physician“ verloren. Altersbedingt, durch Wegzug, wegen Krankheit. Auch durch Burnout. Die meisten Ärzte sind hoffnungslos überlastet. Auf einen Mediziner kommen hier 2068 Einwohner. Das ginge ja noch. Aber Dr. Harrison kann und darf nur 500 neue Patienten annehmen. Der Rest der Patienten wird auch weiterhin in die Notaufnahmestationen der Krankenhäuser gehen müssen, um dort stundenlang zu warten. Für ein Grippemittel, wegen einer Bänderzerrung oder Magenschmerzen.

Wir haben – wieder – eine Hausärztin. Trotzdem beträgt die Wartezeit zum nächsten Termin sechs Wochen. Schlimm? Auf einen als „dringend“ eingestuften Termin beim Facharzt habe ich sieben Monate gewartet.

Wartezeit in der Notaufnahme: 20 Stunden

In den Notaufnahmestationen der Montréaler Krankenhäuser beträgt die Wartezeit durchschnittlich 20 Stunden. Als neulich der Gesundheitsminister versprach, die Wartezeiten bis zum Jahr 2015 auf zwölf Stunden zu reduzieren, gab es Applaus von allen Seiten. Mir kommt das vor wie ein Hohn. Den meisten meiner kanadischen Freunde nicht. Sie sind stolz auf ihr System.

Der Mangel an Ärzten und Krankenhäusern ist auf ein Versagen der Politik zurück zu führen. Die stets nach innen gerichtete Nabelschau der Québecer Nationalisten stellt sich langfristig gesehen als Katastrophe heraus. Hausärzte verdienen hier einen Bruchteil dessen, was ihre amerikanischen KollegInnen berechnen dürfen. Bei Fachärzten ist der Unterschied noch dramatischer.

Ohne Französisch wenig Chancen

Erschwerend kommt in der Provinz Québec dazu, dass von Ärzten neben englischen auch französische Sprachkenntnisse verlangt werden. Bewerber aus dem nicht-französischen Sprachraum haben wenig Chancen, die Gnade des Gesundheitsministers zu finden. Also bleiben viele der in Kanada ausgebildeten Mediziner gleich gar nicht in Québec, sondern wandern nach dem Studium in die USA oder andere Teile Kanadas ab, noch ehe sie  überhaupt Fuß gefasst haben in ihrem Beruf.

Ein Skandal. Und irgendwo auch menschenverachtend.