Erinnerungen an 9/11: „Ich will meinen Papa finden!“

Wand der Tränen: Tausende von Vermissten-Fotos Alle Fotos © Herbert Bopp

Manchmal glaube ich ihn noch immer zu spüren, diesen beißenden Trümmerstaub, der sich tagelang wie ein riesiges Leichentuch über Manhattan gelegt hatte. Dann kommen wieder Bilder hoch und Szenen, die mich wohl ein Leben lang wie ein Schatten begleiten werden. Bilder aus New York. Bilder vom September 2001.

New York trug Trauer

Es sind Bilder der Zerstörung und Szenen der Trauer. Wie der Bub, der mich an der Tränenmauer mit all den Fotos von Vermissten, am Ärmel zupft und fragt, ob ich ihn mit nach Ground Zero nehme. „Wenn Sie von der Presse sind“, sagt er, „dürfen Sie doch überall rein.“ Und dann: „Ich will doch meinen Papa finden!“ Dass ich drei Tage nach dem 11. September 2001 im Chaos von Manhattan stehe und nicht gemütlich in meinem Haus in Kanada sitze, geht auf das Konto von Al Kaida. Der Luftraum über New York war nach den Terroranschlägen aus Sicherheitsgründen geschlossen. Journalisten aus Übersee konnten nicht einfliegen. Ich lebte schon damals in Montréal, ein paar Bahnstunden von New York City entfernt.

Als WDR-Reporter zum Einsatz in Manhattan

Die WDR-Internetredaktion hatte mich in die USA geschickt, um ein „New Yorker Tagebuch“ zu schreiben. Als Kanada-Korrespondent gab es wenig, das ich noch nicht abgedeckt hatte: Von Flugzeug-Katastrophen über Umweltdesaster bis zu Abenteuerreisen durch Alaska. 9/11 war für mich der erste Einsatz in Manhattan. Und wie so oft lagen auch hier Freud und Leid nahe beieinander. Die Terror-Attacken wurden auch für mich zur menschlichen Katastrophe. Sie sollten aber auch zur Krönung meiner journalistischen Laufbahn werden: Das „New Yorker Tagebuch“ ist 2002 in Berlin mit dem New Media Award ausgezeichnet worden.

Eine zehntägige Achterbahn der Gefühle

Bei der Ankunft in New York hatte ich Tränen in den Augen, nicht nur wegen der toxischen Luft. Es war, als liege diese einzigartige Stadt mit ihren gefällten Türmen jetzt plötzlich schwer verwundet am Boden. Es sollte eine zehntägige Achterbahn der Gefühle werden, die ich bis heute nicht ausblenden kann. Da war die Polizistin. Schluchzend wie ein kleines Mädchen, saß sie in ihrem Streifenwagen. In Uniform und in der taffsten Stadt der Welt. Da war die kleine Gruppe dunkelhäutiger Menschen am Union Square, mit Transparenten: „Nicht alle Araber sind Mörder!“. Sie sangen „Give peace a chance“.

Da war mein russischer Taxifahrer. Er konnte sich auf der Fahrt durch Manhattan nur mit Mühe am Lenkrad festhalten, als er im Autoradio von einem Fahrradkurier hörte, der eben in den Trümmern gefunden wurde. „Es ist mein Kumpel“, weinte der Mann. „Ich weiß es. Er hatte am Morgen des 11. September noch eine Lieferung ins World Trade Center“.

Eine verzweifelte Frau: „Jetzt sterben schon die Helden!“

Helden-Verehrung

Und dann war da die Frau, die fassungslos aus dem Polizeiauto strauchelt. Eben hat sie erfahren, dass ihr Bruder Joseph in den Trümmern gefunden wurde. „Er war doch ein Feuerwehrmann, Herrgott nochmal!“, schrie sie in den New Yorker Morgen. „Jetzt sterben schon die Helden.“ Einen Helden kannte um diese Zeit übrigens jeder New Yorker. Oder er war einer. Oder er wäre gerne einer gewesen. „Heroes“, das waren die Polizisten, die im 24-Stunden-Einsatz den chaotischen Verkehr rund um Ground Zero regelten. Die Krankenwagenfahrer, die Blutspender, die freiwilligen Helfer. Selbst die Donut-Verkäufer, die vor dem Einsturz der Twin Towers noch rechtzeitig ihre Backwaren in Sicherheit bringen konnten, galten zu diesen unwirklichen Zeiten noch als Helden. Und natürlich war ein Feuerwehrmann wie Joseph ein Held. „A fallen hero“ sogar. Höher als tote Helden geht nicht auf der Heldenskala.

New York nach dem 11. September: Milder, sanfter, gnädiger

Trauern und suchen

Das New York, das ich nach dem 11. September 2001 vorgefunden hatte, war – was sonst?  – ein anderes New York als das, was ich von früheren Besuchen her kannte. Es fehlten jetzt nicht nur die beiden Türme, die mir manchmal wie Stinkefinger vorkamen, die New York-Besuchern schon von weitem zeigen wollten, wo Barthel den Most holt. Es fehlte so kurz nach den Terroranschlägen auch der oft ruppige Umgang der New Yorker untereinander, für den sie ja bekannt sind. Der Big Apple schmeckte irgendwie süßer.

Ein Jahr später: Genug getrauert

Genau ein Jahr später, am 11. September 2002, bin ich wieder nach New York gereist. Es war eine Revival-Tour, wieder für den WDR: Gleiche Bahnfahrt, gleiches Hotel, oft sogar die gleichen Interviewpartner wie ein Jahr zuvor. Aber die Stimmung war nicht mehr dieselbe. Ruppiger, unsanfter. Lauter. Aber irgendwo auch ehrlicher. Im Katastrophentummel lächelt man schon mal eine Runde zu viel, um gute Miene zum teuflischen Spiel zu machen. Ein Jahr später war so manchem New Yorker das Lächeln wieder aus dem Gesicht gefallen. Aber zur Trauer reichte es auch nicht mehr ganz. New York war wieder New York.

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Mein 9/11 in New York City

Es sind Tage und Nächte, die mich für den Rest meines Lebens geprägt haben: Kurz nach den Terroranschlägen auf das World Trade Centre war ich als Reporter für wdr.de in New York City. Nach dem Relaunch der WDR-Internetseiten ist das „New Yorker Tagebuch“ ab sofort wieder online.

Die Story vom Sauerzehcocktail

Bisschen gruselig: Sourtoe-Certificate

In unserem Gäste-Bad hing jahrelang eine Urkunde, die unsere Besucher regelmäßig schaudern ließ. Irgendwann nahm ich das gerahmte Dokument ab und hängte es in meinem Büro wieder auf. Jetzt ekelten sich die Gäste eben, wenn sie mich im Büro besuchten. Ehrlich gesagt habe ich lange Zeit nicht mehr daran gedacht, wie ich zu der Urkunde gekommen war. Aber vor ein paar Tagen hat mir eine tolle Kollegin aus Deutschland erzählt, dass sie für eine Gold-Reportage im Yukon gewesen sei. Von einem etwaigen Besuch in der „River Rat Bar“ von Dawson City hat sie jedoch nichts erwähnt. Das fand ich etwas schade. Deshalb soll die Story, die hinter der Urkunde steckt, hier noch einmal erzählt werden.

Es gibt Geschichten, die sollte man sich nicht zum Frühstück erzählen. Auch nicht zum Mittagessen. Und gleich gar nicht zum Abendbrot, wenn sich alle auf Schweinebraten und Spätzle freuen und du fängst plötzlich an vom Sauerzehcocktail. Es gibt Geschichten, die sollte man sich eigentlich gar nicht erzählen. Dazu gehört die Geschichte vom Sauerzehcocktail. Doch weil der Sauerzehcocktail im Laufe der Jahre viele unterhaltsame Tischgespräche geliefert und sogar für gute Einkünfte in der Korrespondenten-Kasse gesorgt hat, darf die Story hier noch einmal zu Ehren kommen.

Es begann an der Mündung des Klondike River

Die Geschichte des Sauerzehcocktails  ist eine jener Geschichten, die es nur in Kanada geben kann. Denn nur hier, wo die Winter lang und die Tage kurz sind, scheinen Menschen die Begabung zu besitzen, spielerisch mit einem menschlichen Körperteil umzugehen, das schon seit hundert Jahren tot ist.  Der Tatort ist eine kleine Bar in der Goldgräbersiedlung Dawson, nicht weit von der Mündung des Klondike Rivers in den Yukon. Dorthin waren während des größten Goldrausches (1896-1898) in Nordamerika Zigtausende von Abenteuersuchenden geströmt. Der Flusskapitän Dick Stevenson verdiente sein Geld damit, Männer, die bis von Kalifornien in den Norden Kanadas gereist waren, vom Ausgangspunkt Dawson City im Yukon aus zu den Goldminen am Klondike River zu schippern.

Der Goldrausch vom Klondike brachte das Beste im Menschen zum Vorschein, aber auch das Hässlichste, Gemeinste, Schrecklichste. Als die Schürfer dem Fels- und Sandgestein an der Grenze zu Alaska auch noch den allerletzten Nugget abgerungen hatten, waren sagenhafte 12,5 Millionen Unzen gehoben. Genug, um Dutzende von Lkw-Container mit purem Gold zu füllen.  Manche der Männer wurden als Goldgräber unbeschreiblich reich. Andere, wie zum Beispiel der Abenteuer-Schriftsteller Jack London, wurden weltberühmt. Wieder andere wurden körperlich krank oder einfach verrückt.  Käpt’n Stevenson passt in keine der oben genannten Kategorien. Ihm war schlicht und einfach langweilig geworden.

Braun und klitschig: Der Autor beim Zehtest

Nachdem er Tausende von Golddiggern durch das Flussgewirr des kanadischen Yukon-Territoriums geschifft hatte, gab es nach dem Ende des gold rush nicht mehr viel für ihn zu tun. Also baute er sich ein Blockhaus in dem Ort Dawson und vermietete die Zimmer im oberen Stockwerk an freizügige Damen, die sich von freigiebigen Herren für ihre Liebesdienste bezahlen ließen. „Whorehouses“ hießen diese Etablissements in Dawson ganz unverblümt. Bei den Damen, die in den Bordells arbeiteten, handelte es sich um meist junge Frauen, die den Abenteurern hinterher gereist waren, in der Hoffnung, auf ihre Art den Goldrausch ein wenig mitträumen zu dürfen. Die Rechnung ging auf. Viele der Huren wurden so reich wie die Goldgräber selbst. Seither hat der Begriff „golddigger“ in der englischen Sprache eine doppelsinnige Bedeutung. Mit „golddigger“ sind nicht nur die Schürfer selbst gemeint, sondern auch die Frauen, die sich am Reichtum älterer Männer laben, ohne eine Gegenleistung dafür zu erbringen. Sieht man einmal von gelegentlichen Leibesübungen ab.

Besuch in der „River Rat Bar“

Im Erdgeschoss des Holzhauses, das sich Kapitän Stevenson gebaut hatte, befindet sich heute wie damals die „River Rat Bar“. Weil ein Flusskapitän nicht nur gut navigieren können muss, sondern auch erste Hilfe leistet, wenn es die Situation erfordert, diente die Bar gelegentlich als Notfallstation. Manche der Hilfesuchenden hatten sich beim Goldschürfen verletzt, andere beim Trinken zu viel zugemutet, wieder andere Erfrierungen zugezogen. Im Yukon sinken die Temperaturen schon mal auf minus 45 Grad.

Einer von denen, die mit Erfrierungen Hilfe in der „River Rat Bar“ gesucht hatten, war ein namenloser Trunkenbold, der nicht einmal in der Lage war, den Whisky zu bezahlen, mit dem der Käpt’n den erfrorenen Zeh des Mannes desinfizierte. Ehe er ihn schließlich amputierte. Den Zeh legte Mister Stevenson in ein Marmeladeglas mit hochprozentigem Alkohol ein. Damit war die Konservierung des guten Stückes garantiert. Im Laufe der Jahre schrumpelte der Zeh zu einem hässlichen, sehnigen Fleischbrocken zusammen. Allenfalls der Nagel erinnert heute noch daran, dass es sich tatsächlich einmal um den großen Zeh eines männlichen Wesen gehandelt haben muss.

Ein verschrumpelter Zeh im Whiskyglas

Der in Whisky eingelegte Zeh wurde zur Legende. Für Männer, die sich im Yukon etwas beweisen wollten, gehörte es fortan zur verdammten Pflicht und Schuldigkeit, ein Glas Whisky zu trinken, in denen der verschrumpelte Zeh schwamm. Der Sauerzehcocktail war geboren. Die Idee mit dem eingelegten Zeh brachte dem Flusskapitän so viel Geld ein, dass er sich einen angenehmen Altersruhestand gönnen konnte.

Nach dem Tod von Mister Stevenson setzte ein entfernter Verwandter, ebenfalls Kapitän, den Brauch mit dem Sauerzehcocktail fort. Heute sind es fast nur noch Touristen (und gelegentlich auch Journalisten), die den Whisky nicht „on the rocks“ trinken, sondern „on the toe“.  Am Ritual selbst hat sich seit den Stevenson-Tagen nichts geändert: Nur wer es geschafft hat, sich ein Glas Whisky hinter die Binde zu kippen und den verdorrten Zeh mindestens fünf Sekunden im Mund zu belassen, ehe er ausgespuckt werden darf, bekommt als Beweis für diese zweifelhaften Mutprobe eine Urkunde ausgehändigt.

Meine Urkunde trägt das Datum vom 7. September 2004. An diesem Tag, übrigens dem 65. Geburtstag meiner Schwester Irmtraud, führt mich der Weg in die „River Rat Bar“ in Dawson. Es ist ein regnerischer Abend, die bissige Luft riecht nach frühem Winter. Der unbefestigte Schotterweg, der durch den 1200-Einwohner-Ort Dawson City führt, ist aufgeweicht. Die Bar ist brechend voll. Auf einer kleinen Holzbühne in der Ecke spielt eine Country & Western- Band. Auf dem Tresen steht ein großes Glas mit eingelegten Eiern, daneben ein Fass mit sauren Rollmöpsen. Um mich herum gut gelaunte Menschen: Einheimische, ausgelassene Touristen und ein paar kreischende Frauen, die sich allein schon beim Anblick des berühmten Marmeladeglases ekeln.

Ich bin hierher gekommen, um mir den Sauerzehcocktail anzutun. „Are you ready?“, will der Barmann wissen. Das Gekreische in der Kneipe wird lauter. „Are you ready?“, fragt der Brummbär jetzt noch einmal, diesmal mit erhobener Stimme. Klar doch. Hatte ich eine andere Wahl? Jetzt, da ich dem legendären Marmeladeglas mit dem abgestorbenen Zeh näher gekommen bin als die meister der Hörer und Leser, denen ich darüber berichtet hatte, gab es kein Zurück mehr.

Ex oder langsam? Ich entscheide mich für den schnellen Tod

„Her damit“, rufe ich dem Barkeeper zu. „Und hinterher gleich noch einen Extraschnaps, um den Ekel wegzuspülen.“ Der Barbesitzer setzt sich die Kapitänsmütze auf, die angeblich schon Dick Stevenson getragen haben soll. Dann greift er mit Mittelfinger und Daumen in den Marmeladetopf, holt vorsichtig, aber nicht sehr angeekelt die gelblich-bräunliche Zehe heraus und lässt sie in ein leeres Glas fallen. Ein Schuss Whisky drüber – und es kann losgehen. „Schluckweise oder ex?“, will der Barkeeper wissen.  Ich entscheide mich für den schnellen Tod.

Geschafft: Ex und hopp und eklig

Das Gefühl, fünf Sekunden lang den vergilbten, verschrumpelten Zeh eines Goldgräbers im Mund zu haben, den ich nicht einmal kannte, ist unbeschreiblich ekelhaft. Aber auch aufregend. Es schmeckt nach Essig und Salz, nach Zucker und Jod, nach Schnee und Eis. Und auch ein bisschen nach Menschenfleisch.  Oder bilde ich mir das nur ein?  Vor allem aber schmeckt der Sourtoe-Cocktail nach Abenteuer. Da fallen einem Schleppesel ein, die Zelte und Kochgeschirr der Goldgräber transportieren, Campfeuer und gebratene Grizzlytatzen, aber auch kalifornische Girls, die es allen Männern recht machen wollen. Und viel, viel Gold.  Weniger aufregend ist die Gewissheit, nicht der Erste gewesen zu sein, der dieses Stück Menschenfleisch in seinem Mund gehabt hat. Meine Urkunde trägt die Nummer 14 376