Picture Perfect ins neue Jahr

Das Zeitalter der Digitalfotografie hat bei mir am 13. September 2001 begonnen. Ich weiß das so genau, weil ich zwei Tage nach 9/11 von Montréal nach New York gefahren bin, um über die Terroranschläge zu berichten. Kurz zuvor hatte ich mir im Future Shop noch eine Digicam geholt, von der ich keine Ahnung hatte. Die Bedienungsanleitung habe ich im Zug studiert. Inzwischen befinden sich auf diversen Rechnern gut 50 000 Fotos und Videos.

Mit der ersten Digicam ist es wie mit der ersten Liebe: Sie macht einen total verrückt. Aber man bleibt dann meistens doch nicht bei ihr. Aus meiner ersten Digi-Liebe sind inzwischen vier oder fünf Nachfolgerinnen geworden. Und auch ein paar Nebenbuhlerinnen. Jede Kamera hatte ihre Vor- und Nachteile. Aber alle hatten sie eines gemeinsam: Man fotografiert viel zu viel. Und viel zu viel Unnützes. Und schickt viel zu viele Fotos an Menschen, denen die Bilder viel weniger bedeuten als man denkt.

Hätte ich die Bilder, die ich in den letzten zehn Jahren digital in meinen Rechner eingespeist habe, großformatig ausdrucken und die Filme entwickeln lassen, könnte ich vermutlich sämtliche Schlaglöcher in unserer Straße damit stopfen. Auf jeden Fall hätte der Papierverschleiß den kanadischen Waldbestand ernsthaft gefährdet.

Nur: Bei Printfotos gab es ja diese Inflation von Bildern gleich gar nicht. Da waren noch Entscheidungen gefragt: Hundi mit Mütze geht an Ute. Die liebt Hundis mit Mützen. Das große Fressen ist für Michael. Der weiß Würste zu schätzen. Foto vom neuen Kaschmirschal? Muss ich unbedingt Marie-Anne in die Schweiz schicken. Per Brief. Doch Postamt war gestern. Heute? „Digimonster schickt Ihnen ein Webalbum. Ein Klick auf diesen Link genügt“. Fotoversand als digitale Postwurfsendung.

Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob diese digitale Revolution so eine gute Idee war. Man trennt sich ja auch total ungern von irgendwas, erst recht von Fotos. Sonnenuntergang mit einem Wölkchen, mit zwei, mit gar keinem. Schneetreiben von links nach rechts, von West nach Ost und von oben nach unten. Und überhaupt finde ich diese Massenablichtung ziemlich anstrengend. Wenn ich nur daran denke, wieviel Kraft es mich jedesmal kostet, den Bauch einzuziehen, bis es dann endlich Klick gemacht hat.

Und dann: Man kuckt ja schon auch mal gerne in den Spiegel von früher. Und fand sich damals richtig doof. Oder auch richtig gut. Doof, weil Outfit, Frisur und Brille einfach nur lächerlich aussahen. Gut, weil man damals figürlich noch im Federschritt dahergekommen ist, irgendwie jugendlicher. Und überhaupt: Herr, wo ist dein Haupthaar geblieben?

Bilder sind Dokumente der Zeitgeschichte. Gute und schlechte. Als solche schätze und liebe ich meine Fotos. Jedes von ihnen. Und pflege sie und archiviere sie und freue mich über jedes neue Bild in meiner Mailbox. Vorausgesetzt es ist nicht 16 MB fett und bringt meinen Rechner zum Kochen.

Erinnerungen an 9/11: „Ich will meinen Papa finden!“

Wand der Tränen: Tausende von Vermissten-Fotos Alle Fotos © Herbert Bopp

Manchmal glaube ich ihn noch immer zu spüren, diesen beißenden Trümmerstaub, der sich tagelang wie ein riesiges Leichentuch über Manhattan gelegt hatte. Dann kommen wieder Bilder hoch und Szenen, die mich wohl ein Leben lang wie ein Schatten begleiten werden. Bilder aus New York. Bilder vom September 2001.

New York trug Trauer

Es sind Bilder der Zerstörung und Szenen der Trauer. Wie der Bub, der mich an der Tränenmauer mit all den Fotos von Vermissten, am Ärmel zupft und fragt, ob ich ihn mit nach Ground Zero nehme. „Wenn Sie von der Presse sind“, sagt er, „dürfen Sie doch überall rein.“ Und dann: „Ich will doch meinen Papa finden!“ Dass ich drei Tage nach dem 11. September 2001 im Chaos von Manhattan stehe und nicht gemütlich in meinem Haus in Kanada sitze, geht auf das Konto von Al Kaida. Der Luftraum über New York war nach den Terroranschlägen aus Sicherheitsgründen geschlossen. Journalisten aus Übersee konnten nicht einfliegen. Ich lebte schon damals in Montréal, ein paar Bahnstunden von New York City entfernt.

Als WDR-Reporter zum Einsatz in Manhattan

Die WDR-Internetredaktion hatte mich in die USA geschickt, um ein „New Yorker Tagebuch“ zu schreiben. Als Kanada-Korrespondent gab es wenig, das ich noch nicht abgedeckt hatte: Von Flugzeug-Katastrophen über Umweltdesaster bis zu Abenteuerreisen durch Alaska. 9/11 war für mich der erste Einsatz in Manhattan. Und wie so oft lagen auch hier Freud und Leid nahe beieinander. Die Terror-Attacken wurden auch für mich zur menschlichen Katastrophe. Sie sollten aber auch zur Krönung meiner journalistischen Laufbahn werden: Das „New Yorker Tagebuch“ ist 2002 in Berlin mit dem New Media Award ausgezeichnet worden.

Eine zehntägige Achterbahn der Gefühle

Bei der Ankunft in New York hatte ich Tränen in den Augen, nicht nur wegen der toxischen Luft. Es war, als liege diese einzigartige Stadt mit ihren gefällten Türmen jetzt plötzlich schwer verwundet am Boden. Es sollte eine zehntägige Achterbahn der Gefühle werden, die ich bis heute nicht ausblenden kann. Da war die Polizistin. Schluchzend wie ein kleines Mädchen, saß sie in ihrem Streifenwagen. In Uniform und in der taffsten Stadt der Welt. Da war die kleine Gruppe dunkelhäutiger Menschen am Union Square, mit Transparenten: „Nicht alle Araber sind Mörder!“. Sie sangen „Give peace a chance“.

Da war mein russischer Taxifahrer. Er konnte sich auf der Fahrt durch Manhattan nur mit Mühe am Lenkrad festhalten, als er im Autoradio von einem Fahrradkurier hörte, der eben in den Trümmern gefunden wurde. „Es ist mein Kumpel“, weinte der Mann. „Ich weiß es. Er hatte am Morgen des 11. September noch eine Lieferung ins World Trade Center“.

Eine verzweifelte Frau: „Jetzt sterben schon die Helden!“

Helden-Verehrung

Und dann war da die Frau, die fassungslos aus dem Polizeiauto strauchelt. Eben hat sie erfahren, dass ihr Bruder Joseph in den Trümmern gefunden wurde. „Er war doch ein Feuerwehrmann, Herrgott nochmal!“, schrie sie in den New Yorker Morgen. „Jetzt sterben schon die Helden.“ Einen Helden kannte um diese Zeit übrigens jeder New Yorker. Oder er war einer. Oder er wäre gerne einer gewesen. „Heroes“, das waren die Polizisten, die im 24-Stunden-Einsatz den chaotischen Verkehr rund um Ground Zero regelten. Die Krankenwagenfahrer, die Blutspender, die freiwilligen Helfer. Selbst die Donut-Verkäufer, die vor dem Einsturz der Twin Towers noch rechtzeitig ihre Backwaren in Sicherheit bringen konnten, galten zu diesen unwirklichen Zeiten noch als Helden. Und natürlich war ein Feuerwehrmann wie Joseph ein Held. „A fallen hero“ sogar. Höher als tote Helden geht nicht auf der Heldenskala.

New York nach dem 11. September: Milder, sanfter, gnädiger

Trauern und suchen

Das New York, das ich nach dem 11. September 2001 vorgefunden hatte, war – was sonst?  – ein anderes New York als das, was ich von früheren Besuchen her kannte. Es fehlten jetzt nicht nur die beiden Türme, die mir manchmal wie Stinkefinger vorkamen, die New York-Besuchern schon von weitem zeigen wollten, wo Barthel den Most holt. Es fehlte so kurz nach den Terroranschlägen auch der oft ruppige Umgang der New Yorker untereinander, für den sie ja bekannt sind. Der Big Apple schmeckte irgendwie süßer.

Ein Jahr später: Genug getrauert

Genau ein Jahr später, am 11. September 2002, bin ich wieder nach New York gereist. Es war eine Revival-Tour, wieder für den WDR: Gleiche Bahnfahrt, gleiches Hotel, oft sogar die gleichen Interviewpartner wie ein Jahr zuvor. Aber die Stimmung war nicht mehr dieselbe. Ruppiger, unsanfter. Lauter. Aber irgendwo auch ehrlicher. Im Katastrophentummel lächelt man schon mal eine Runde zu viel, um gute Miene zum teuflischen Spiel zu machen. Ein Jahr später war so manchem New Yorker das Lächeln wieder aus dem Gesicht gefallen. Aber zur Trauer reichte es auch nicht mehr ganz. New York war wieder New York.

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