Die Kunst, loslassen zu können

Wegwerfen? Niemals! Als Reporter in „Camp Shilo“ (1974) – Mein erster Straßenkreuzer (1973) in Winnipeg (Superdeal: 200 $, allerdings ohne Heizung) – In der Redaktion der „Waiblinger Kreiszeitung“ (1971) – Eiszeit in Winnipeg/Manitoba (1974)

Jetzt wird’s ernst. Der Countdown hat begonnen. Freitag um acht steht der Möbelwagen vor der Tür. Es gibt kein Zurück mehr. Wir ziehen um. Nach 25 Jahren. Vom Land in die Stadt. Vom Haus im Grünen ins Loft in der Fabrik. Extremer könnte der Wohnwechsel nicht ausfallen. Wer sich dermaßen verkleinert, muss größenwahnsinnig sein. Oder einfach Haus- und Gartenmüde wie wir.

Die Kisten sind gepackt, fünf davon allein mit Fotos. Wer sein Kind in der vordigitalen Steinzeit groß zieht, den bestraft das Leben mit Papierbildern. Und die brauchen Platz. Keins, nicht ein einziges der Bilder, die wir über die Jahre gehortet haben, kommt in den Müll. Weder das peinliche Dirndl-Dia mit Lore, noch das Schwarzweiß-Foto, das den Reporter in Bundeswehruniform auf einem Leopard-Panzer in der kanadischen Prärie zeigt. Im Panzer! In Uniform! Ohne einen einzigen Tag gedient zu haben – das muss mir erst einmal einer nachmachen.

Downsizing: Von 32 Leitz-Ordnern bleiben fünf

Dachterrasse, Schwimmbad, Fitnesscenter. Im neuen Zuhause wird es uns an nichts mangeln – außer an Platz. Von 32 Leitz-Ordnern bleiben fünf übrig. Erst als der Shredder anfängt zu qualmen – kein Witz -, darf der Reißwolf ruhen.

Downsizing hat etwas Befreiendes, Erfrischendes, Klärendes an sich. Ist erst einmal die Spreu vom Weizen getrennt, sind unnütze Hemden und hässliche Handtücher auf das absolute Mindestmaß eingedampft, wird der Blick frei auf das Wesentliche: Computer, Fahrräder, Zauberutensilien, Nähmaschine, Winterreifen, Gitarre, Banjo, Töpfe und ein paar Möbel. Der Rest geht an die Heilsarmee, an Freunde und Nachbarn und auch an die Jungs von der Müllabfuhr.

„Bitte nicht noch eine James-Last-Platte!“

Für 400 Vinyl-Schallplatten gab’s gerade mal 60 Dollar. „Hello darkness, my old friend“, sagt sich der Sammler und geht zum Trödler „I’ve come to talk with you again“. Simon and Garfunkel sind vom Geldwert her auch nicht mehr das, was sie einmal waren. „Entschuldigung“, sagt der Plattentrödler, „aber meine James-Last-Kollektion reicht bis zur Rente“.

Led Zeppelin, Abba, The Who, Beatles und Stones – mehr als ein paar Groschen sind sie heute leider nicht mehr wert. „Und was ist mit dem Bangladesch-Album von George Harrison?“ „Bitte nicht noch eins“, brummt der Trödler und schiebt den rotbraunen Coverkarton von sich als hätte meine Schallplatte die Krätze. Nein, mit Vinyl ist heute kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Dabei schreit doch jeder nach Retro.

Die Kunst des loslassen Könnens

Egal. Was weg ist ist weg. So landet eben der Tambourine Man in der Tonne und Nana Mouskouri guckt über den Brillenrand zu. Umziehen erfordert Opfer, loslassen können und Entscheidungen. Vor allem aber erfordert so ein Umzug Kraft.

Bücherkisten sind leichter zu stemmen als Emotionen.

Umzug: Achterbahn der Gefühle

Kanadier sind ein mobiles Volk. Sie ziehen in ihrem Leben durchschnittlich zwölf Mal mal um. Wenn diese Statistik stimmt, wundere ich mich, dass die meisten Kanadier, die ich kenne, noch ganz bei Trost sind. Wir sind gerade dabei, zum erstenmal seit 25 Jahren den Wohnort zu wechslen. Und kommen manchmal an die Grenzen unserer Zurechnungsfähigkeit.

Garten war gestern

Das Haus auf dem Land ist verkauft, das neue Domizil in der Stadt wartet bereits auf uns. Ein Klacks, könnte man sagen, wo ist das Problem?

Wenn das Haus zum Heim wird

Das Problem ist, dass sich ein Haus, das zum Heim geworden ist, nicht abschütteln lässt wie ein Schwarm lästiger Moskitos. Da kochen plötzlich Emotionen hoch, die ich bisher gar nicht kannte. Es sind sehr persönliche Emotionen. Sie haben mit dem Elternhaus des Sohnes zu tun und mit Tausenden von Korrespondenten-Beiträgen, die hier entstanden sind. Sie führen hin zu Lores Kreativwerkstatt, in der jede Menge Bilder gemalt wurden, die nicht nur Hunderte von Erinnerungen festhielten, sondern auch viele Räume schmückten. Und weil es im neuen Loft nur vier Wände gibt und nicht wie bisher ein Dutzend Zimmer, dazu Sauna, Whirlpool und vier Bäder, wird ein Tel der Kunst wohl künftig ins Blockhaus wandern und den Enten beim Brüten auf dem Lac Dufresne Gesellschaft leisten. Rambazamba war gestern.

Die alten Hasen gehen, die jungen Küken kommen

So ist unser beschauliches Leben plötzlich zur Achterbahn geworden. Was nehmen wir mit? Was kommt in den Müll. Brauchen die neuen Besitzer das Klavier? Passt das Apothekerschränkchen vom Flohmarkt überhaupt noch in die neue Loft? Fragen über Fragen. Und alle müssen bald beantwortet werden, denn die Zeit drängt. Der Notartermin steht fest, die junge Familie, die das Haus der alten Hasen gekauft hat, steht in den Startlöchern. Mit Hund und zwei kleinen Kindern und einem noch kleineren im Bauch. Stephanie und Mark, die hier unsere Nachfolge antreten werden, sind heute genau so alt wie wir damals, als wir in Hudson eingezogen sind. Mit vielen Träumen, die auch wir damals hatten. Und die sich, so ganz nebenbei, fast alle erfüllt haben.

Fabrikloft ist heute

Noch nervzehrender als das Möbelrücken ist jedoch dieses Hütchenspiel mit den Gefühlen. Ist es nicht verrückt, 4000 qm Land mit Teich, Wald und Wiese einzutauschen gegen eine Terrasse, auf der gerade mal unser Smart Platz hätte? Und ein Haus, in dem sich eine Fußballmannschaft breit machen könnte, wird ersetzt durch einen ehemaligen Fabrikraum, mit einer Nasszelle als Kubus in der Mitte, auf den eine Treppe in eine Art Schlafgemach führt? Ein Glück, dass es dazu noch eine Gemeinschafts-Dachterrasse mit Pool gibt, ein Fitness-Centre und einen Billiardraum für alle. Und jede Menge Kneipen drumherum. Cool, ja. Aber vernünftig? Egal. Wir haben uns vorgenommen, unser Leben umzukrempeln, noch mobiler zu sein als bisher. Verkleinern statt vergrößern. Wir sind dann mal weg.

Downsizing statt Upgrading: Tschüss, Pampa!

Was ist mit dem Urteil des Vaters, der, damals 80 Jahre alt, im Garten unseres Noch-Hauses sitzt und ungefragt bestimmt: „Das Haus bleibt in der Familie!“ Gerne, lieber Vater, wo immer du gerade mitliest. Nur: Die Familie ist inzwischen verstreut, das Haus zu groß und überhaupt passt der Standort Pampa nicht mehr in unsere Lebensplanung. Downsizing statt Upgrading. Mehr Mallorca. Wir wollen es so.

„Alles wird gut“, beruhigt mich – und sich – die Frau an meiner Seite. „Ihr macht schon alles richtig“, spricht der Sohn uns – und sich – gut zu. „Gratuliere zum Mut!“, schreibt Frank, der Freund. Auch Philipp, der Klügste von uns allen, spart nicht mit Balsam auf unsere geschunden Seelen. „Das Haus verkauft ihr”, schrieb er vor fünf Minuten, “aber die ganzen Erinnerungen an Eure gemeinsame Zeit nehmt ihr mit”.

Danke, Philipp. Danke, Frank. Inzwischen rast die Achterbahn der Gefühle unvermindert weiter. In eine wunderbare Zukunft. Hoffe ich.