Die (Film-)Rolle meines Lebens

So fühlt es sich also an, wenn man mit 63 die erste Filmrolle seines Lebens bekommt und demnächst vor der Kamera steht. Gleich kommt der Fahrer. Dann geht es in die Berge, nördlich von Montreal. Dort wird bereits seit einer Woche gedreht. Mein Charakter kommt erst ab Montag im Film vor. Vier Tage diese Woche, drei in der darauffolgenden – so sieht der Drehplan aus. Und ich bin nervös wie ein Teenager vor dem ersten Date.

„Kein Grund zur Nervosität“, beschwichtigt mich Sterling am Telefon. Er ist der Regisseur von „Belle“.  Sterling muss es wissen. Er hat schon einige Indie-Produktionen hinter sich. Ein richtiger Kassenhit war nicht darunter, aber schöne, ästhetische Filme über die unterschiedlichsten Themen sind unter seiner Regie entstanden, von Ruanda bis zum Rappermovie. Einer seiner Kunstfilme wurde im New-Yorker Guggenheim-Museum gezeigt.

„Belle“ ist ein Film im Film

herbert„Belle“ ist nichts von alledem. Es ist ein Film im Film. Ein Kinofilm, der die Geschichte eines älteren Mannes (Theodore) erzählt, der sich bei Dreharbeiten in eine blutjunge Schauspielerin verliebt und dabei an den Folgen von so etwas wie Altersrassismus zu leiden hat. Vor allem ein Kollege am Set macht sich gerne lustig über den älteren Herrn, für den das Leben seit der Begegnung mit der jungen Schauspielerin „Mae“ erst richtig anzufangen scheint. Und das mit 62 Jahren.

Ursprünglich war ich für die Rolle des Theodore gecastet worden. Aber der Regisseur hatte Erbarmen mit dem neugierigen, aber Film-unerfahrenen Journalisten, der zwar hinter der Kamera gearbeitet hat, niemals aber davor. Jetzt ist die Rolle mit einem routinierten Schauspieler besetzt. Und das ist gut so.

Manchmal haut Waldemar auf den Tisch

Es wurde neu gecastet. Meine Rolle ist jetzt die des Regisseurs des Films im Film. Waldemar, ein deutscher Filmemacher mit europäischem Akzent, älter, erfahren, cool, aber dennoch freundlich, das Ganze mit dem Touch des Bohemiens. Waldemar hat das Wort am Set. Aber er ist mehr als ein Regisseur. Er vermittelt, strahlt Ruhe aus. Und wenn es mal zu sehr knistert zwischen der jungen Mae und dem alten Theodore, haut Waldemar auch mal auf den Tisch.

Es ist viel Text, den ich zu lernen hatte, zu viel eigentlich für Einen, der als Hörfunkkorrespondent ein Leben lang frei von der Leber sprechen durfte. Das Script, sagt Sterling, sei nur die Vorlage. Ich solle mir die Dialoge „mundgerecht“ machen. Wegen der Authentizität. Das werde ich gerne tun. Wer sagt denn schon „would it be a bother“ wenn „would you mind“ viel flüssiger klingt?

Leben und arbeiten in der Lodge

Schauspieler, Regisseur und Crew wohnen dort, wo gedreht wird: In einer wunderschönen Lodge an einem See in der bergigen Landschaft der Laurentiden. Der Indian Summer ist dort vorbei. Vor ein paar Tagen fiel der erste Schnee. Es gibt Szenen am Kamin, im Wald und auch in einem Ruderboot im See. Und, ja, es gibt auch erotische Szenen in „Belle“. Aber es ist in erster Linie ein vertrackter Beziehungsfilm mit ein bisschen verbotener Liebe und schönen Bildern.

Während der Dreharbeiten darf nicht fotografiert werden. Aber ich werde versuchen, hier im Blog ab und zu meine Eindrücke niederzuschreiben.

Dann also bis demnächst in diesem Theater.

Mein allererstes Casting

Ich denke, das war’s dann mit meiner Schauspielerkarriere. Wenn dich der Regisseur beim Casting ständig für etwas lobt, was in der Rollenausschreibung gar nicht gefragt war – in meinem Fall „your spectacular voice“ -, dann ist das schon mal verdächtig. Wenn er außer zur Stimme aber kein Wort über deine schauspielerischen Leistungen verliert, ist das Urteil quasi gesprochen. Klappe die letzte, also. Trotzdem war mein erstes Casting eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte.

Cool, aber nicht zu cool. Selbstbewusst, aber nicht eitel. Europäisch, gerne auch mit Akzent – so hatte sich der Regisseur meinen Auftritt gewünscht. Cool bleiben ist leichter gesagt als getan, wenn du verschwitzt bis unter die Achselhöhlen bei 34 Grad aus der Métro kommst und dich nach einem Kilometer Fußmarsch zum Proberaum im 4. Stock eines Theaters in einem dampfenden Backsteingebäude hochkämpfst. Drei Männer unterschiedlichen Alters und eine sehr junge, sehr hübsche Frau warten schon vor der Tür. Jetzt bloß kein Smalltalk. Und überhaupt: Geredet wird ab jetzt nur noch für Geld.

Als Fliegenpilz im „Adlersaal“ von Ummendorf

„Come on in“, meldet sich pünktlich der Regisseur bei den Kandidaten. Ich bin heute der einzige, der für die Rolle des alternden Schwerenöters Theodore vorspricht, die anderen sollen für unterschiedliche Charaktere gecastet werden. Meine Rolle ist eine Hauptrolle. Das kann nicht gutgehen. Meinen bisher größten, weil einzigen Bühnenauftritt hatte ich im „Adlersaal“ in Ummendorf. Das war vor ziemlich genau 58 Jahren. Damals durfte ich vor lokalem Publikum einen gepunkteten Fliegenpilz spielen. Stummfilm also.

Der Regisseur ist Anfang dreißig, blitzweisse Zähne, dunkle Augen, pechschwarzes Haar, sehr schlank, sehr freundlich, verbindlich, sympathisch und empathisch, wenn’s um seinen Film geht. „Eure Rolle kennt ihr ja“, sagt Mr. Clooney, „den Text habt ihr auswendig gelernt. Also dann mal los.“

Ein Radiogesicht macht keinen Filmschauspieler

Entschuldigung, Herr Lehrer, aber ich kann meinen Text nicht auswendig. Er ist mir nämlich erst reichlich spät zugeleitet worden. Und damit hier keine Missverständnisse aufkommen, sag ich’s lieber gleich: Ich habe noch nie in einem Film mitgespielt, stand noch nie auf einer richtigen Bühne und habe alles in allem doch eher ein Radiogesicht. Gelächter im Saal. Das Eis ist gebrochen. Das mit dem Radiogesicht passt ganz gut in die Rollenbeschreibung. Hübsch müsse mein Charakter nicht sein, hieß es da, aber charismatisch, neugierig auf mehr Leben und forever young. Könnte passen.

Nach einer Stunde ist alles vorbei. Der empathische Regisseur packt die Kamera weg, die er selbst geführt hat – Achtung, low budget! – wünscht uns einen schönen Abend und bedankt sich, dass wir mit so viel Enthusiasmus bei der Sache waren.

„Zu schön für diesen Film“

Bei der gemeinsamen Aufzugfahrt mit den Castingkollegen dann wieder das inzwischen schon bekannte Ritual: „Tolle Stimme“, sagt einer der Schauspieler, „sensationell“, die Schauspielerin. Trost spricht mir später auch die Frau an meiner Seite: zu: „Wenn du die Rolle nicht bekommst“, sagt Lore, „dann bestimmt deshalb, weil du einfach zu gut aussiehst“.

Warum sind denn alle nur so verdammt nett zu mir? Vielleicht weil ihnen klar geworden ist, dass ich heute Abend gleich zweimal zu einem Casting angetreten bin. Zum ersten und zum letzten Mal.

Spaß und eine Handvoll Dollar

Soll ich – oder soll ich nicht? Eine Agentin hat sich gemeldet. Es geht um eine Filmrolle. Die Frau hatte mich vor Jahren mal als Sprecher unter Vertrag genommen. Dokumentarfilme, Werbespots. Stimmen eben. Im vorigen Jahr durfte ich einen finnischen Weihnachtsmann synchronisieren. Was macht man nicht alles für ein bisschen Spaß und eine Handvoll Dollar.

Filmschauspieler war ich noch nie. Dieses Privileg blieb bisher Cassian vorbehalten. Der Gedanke, es jetzt, mit 63, dem Sohn nachzumachen, ist gewöhnungsbedürftig. Aber er hat was. Reich und berühmt werde ich nicht werden, das steht fest. Aber der Thrill, vor der Kamera zu stehen, ist für einen, der sein Leben hinterm Mikrofon verbracht hat, nicht zu leugnen.

Pariser Gentleman verguckt sich in Schauspielerin

Es ist eine Low-Budget-Produktion, um die es geht. Warum der junge Regisseur ausgerechnet an meinem Gesicht, an meiner Stimme, Gefallen gefunden hat, bleibt sein Geheimnis. Beides präsentiert die Agentin auf ihrer Website. Einen Pariser Gentleman will der Regisseur besetzen, Typ Bohemien. Der verguckt sich in eine junge Schauspielerin, die in seiner Straße einen Film dreht.

„Hübsch ist er nicht, aber interessant“

Theodore, so heißt der Kerl, für dessen Rolle ich vorsprechen soll, ist Anfang 60 und „im Herzen jung geblieben“. Könnte passen. Zwanzig Drehtage sind für den Film angesetzt. „Hübsch ist Theodore nicht“, heißt es in der Rollenbeschreibung, „aber interessant“. Toll. Sollte ich also die Rolle bekommen, würden sie mich nicht etwa wegen meiner blauen Augen nehmen. Wie ich daher komme, ist ihnen wichtiger. Schwerenöter. Womanizer. Doch nicht etwa Dirty Old Man?

Noch ist es nicht so weit mit dem Rollenspiel. Zwei andere Männer sind noch im Rennen. Ich kenne sie nicht, bin aber gespannt, wie so ein Typ aussieht der „nicht hübsch, aber interessant“ ist. Die eigene Wahrnehmung ist ja doch manchmal ein wenig daneben.

Mit 63 nochmal den Marktwert testen

Nervös? Ein bisschen schon. Und überhaupt: Muss ich mir so ein Casting denn antun? In meinem Alter und „bei deiner Figur“, wie Maggy bei solchen Gelegenheiten immer spöttelt. Nein, muss ich nicht. Aber die Neugier hat gesiegt und ich habe zugesagt. Kann ja nicht schaden, mit 63 noch einmal den Marktwert zu testen. Und sei es nur in einer Low-Budget-Produktion als nicht sehr hübscher Mann.

Plötzlich Filmschauspieler

Das ist die Geschichte eines Jungen, der nie davon geträumt hatte, in einem Film zu spielen. Irgendwann stand er dann doch vor der Kamera. Wochenlang. Der Film heißt „Silent Night“. Der Junge ist unser Sohn. Cassian war 14, als er sein Filmdebüt hatte. Heute feiert er seinen 24. Geburtstag.

Filmposter – Cassian r.

Der Anruf kam irgendwann im Sommer. Ob Cassian in den Krieg ziehen möchte. In einem Film. Im Deutschen Theater Montreal war eine Casting-Agentin auf ihn aufmerksam geworden. Cassian strahlt. “Krieg ist zwar schrecklich,” verkűndet der Spross, “aber Filmen ist super.” Wenn man vierzehn ist und von einem Mountainbike träumt, das mehr kostet als Vaters erster Döschwo, dann kann so ein Film-Krieg gar nicht lange genug dauern. So jedenfalls sieht es Cassian. Maggy sieht es auch so. Erwin auch. Und Harald ohnehin. Schauspieler, die es wissen müssen.

Mutter ist sich nicht sicher, ob so eine Filmrolle ins Leben eines Vierzehnjährigen passt. Auch Vater ist unschlüssig. Mutter liest das Drehbuch und hat Tränen in den Augen. Nur Cassian strahlt unter seiner Mähne hervor. Die Mähne! Die muss natűrlich jetzt runter. Das hatte schon die coole Blonde von der Casting-Agentur befohlen. Macht nichts, sagt Cassian. Film ist Film. Krieg ist Krieg. Und Haare wachsen wieder nach. Außerdem werde er seine friedliche Grundhaltung doch nicht für einen Film aufgeben. Auch wenn er demnächst als deutscher Kindersoldat im Fernsehen zu sehen sei. Cassian war zu jener Zeit noch Waldorfschűler. Da ist alles angesagt, nur kein Krieg.

„Man in Black“: Chauffeur und Bodyguard

Die Rolle in einem kanadischen Film hatte Cassian bekommen, weil er ein bisschen Theater-Erfahrung hatte, ziemlich deutsch aussieht und dazuhin fehlerfrei deutsch, englisch und französisch liest, spricht und schreibt. Außerdem kann er ganz gut Stille Nacht singen. Damit war schon mal eine der ergreifendsten Szenen des gleichnamigen Films gebongt.

Szenenfoto aus „Silent Night“ – Cassian 3.v.l.

In Kanada, wo Cassian mit seinen Eltern lebt, stehen vor jeder Schauspieler-Karriere fűnf Buchstaben: ACTRA. “Cassian braucht während der Dreharbeiten einen Schutzengel, eine Art Bodyguard”, bellt die Frau von der Schauspieler-Gewerkschaft in einem Ton, als wűrde sie sich am liebsten selbst um den Job bewerben. Außerdem brauche der Bub einen Privatlehrer am Set, weil er ja den Beginn des neuen Schuljahrs verpasst. Und natűrlich eine Limo mit Chauffeur. Von der Gage gehen 25 Prozent in einen Fond, “damit Ihr Eislauf-Eltern gleich gar nicht auf die Idee kommt, das Geld Eurer Kinder zu verprassen”, hat die Gewerkschafts-Funktionärin zwar nicht so gesagt. Aber todsicher gedacht.

Streifschuss? Davon hatte uns bisher keiner etwas erzählt

Der “Bodyguard” heißt Sven und sieht kaum älter aus als Cassian. Der Fahrer ist ein Man in Black, trägt viele Tattoos, Ohrringe und immer eine Sonnenbrille. Er fährt eine schwarze Limousine. Der Privatlehrer heißt Joel und war schon mal in Deutschland. Der Arzt, der Cassian fűr seine Filmtauglichkeit untersucht, will wissen, ob der Junge denn auch riskante Szenen zu spielen habe. “Streifschuss”, sagt die Producerin beiläufig. Davon hatte uns bisher keiner etwas erzählt.

Ein Sommertag, der heißeste des Jahres: Winter am Set. Aus Hängematten fallen dicke Schneeflocken. Vor jedem Blockhaus-Fenster steht ein Schnee-Mann und zieht auf Kommando am Strick. Beim Schűtteln schneit es Styroporflocken. Draußen hat es 31 Grad im Schatten.

Hilfe! Man hat unser Kind gestohlen!

Entrėe der műden Krieger. Cassian ist der Gefreite Peter Heinrich, ein blonder Wehrmachtssoldat mit Milchgesicht. Zu jung fűr den Krieg, zu alt fűr Tränen. Also schweigt er meistens. Schweigen wird im Film gut bezahlt: 1200 Dollar am Tag und mehr. Űberstunden extra. Das ist keine Statistenrolle. Richtig großes Kino. In den Drehpausen verschwindet der Gefreite Peter Heinrich mit dem Privatlehrer im Wohnwagen und büffelt Hausaufgaben. “Peter”, steht an der Trailer-Tűr. “Unser Kind heißt Cassian”, moniert der Film-Vater bei der Producerin. “Aber bei uns heißt Cassian eben Peter”, sagt die. Hilfe! Man hat unser Kind gestohlen!

Während der nächsten Wochen läuft unser Sohn zu disziplinarischer Höchstform auf. Kein Meckern, wenn der Wecker um fűnf klingelt. Kein Jammern, wenn die Dreharbeiten bis in die Nacht dauern. Der Fahrer mag hundeműde sein, der Schutzengel abgekämpft. Cassian ist fit und immer gut gelaunt.

Linda Hamilton

Linda Hamilton ist nicht ganz unschuldig daran. Sie spielt im Film die Hauptrolle. Und ein bisschen auch in Cassians Leben. „Wusstet ihr, dass Linda mit dem ‚Titanic‘-Regisseur verheiratet war, diesem James Cameron?“, fragt er beim Essen. Jetzt wussten wir’s. Und auch, wieviel Frau Hamilton von Herrn Cameron nach der Scheidung als Abfindung bekommen hatte. Vieeeel.

Irgendwann hat unsere Lokalzeitung von den Dreharbeiten Wind bekommen. Aufmacher mit Bild: „Cassian shines in Silent Night“. Die Verkäuferin im Supermarkt beglückwünscht die Filmmutter zum Erfolg des Sprosses. In Cassians Schule hängt der Zeitungsausschnitt am Schwarzen Brett. Im Radio spricht einer über „This talented local actor named Cassian.“ Im Zimmer unseres Sohnes stapeln sich langsam die Fahrrad-Prospekte. Und überhaupt rufen neuerdings ziemlich viele Mädels bei uns an.

Mit einem kleinen Teil der Filmgage erfüllt sich Cassian später einen Traum: Mit seinem brandneuen Mountainbike legt er den Alpencross zurück. Von München nach Italien. Von der Restgage zehrt Cassian noch heute.

Alle Jahre wieder kommt „Silent Night“ im Fernsehen

„Silent Night“ war der erste und einzige Film, in dem Cassian mitgespielt hat. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit kommt er im kanadischen Fernsehen. Wir sehen ihn fast immer. Und fast immer verdrücken wir eine Träne. Auch in anderen Teilen der Welt wird „Silent Night“ regelmäßig gezeigt. Neulich bekam Cassian Post von einem Mädchen aus Malaysia. Es wollte ein Autogramm. Eine Karriere als Filmschauspieler hat Cassian übrigens nie angestrebt. Das finden wir toll. Arbeitslose Tom Cruises gibt es genug.

Dass er überhaupt die Chance hatte, in einem Film mitzuspielen, ist einem befreundeten Schauspieler namens Harald Winter zu verdanken. Der hatte Cassian damals für die Rolle vorgeschlagen.

Danke, Harald. Und: Happy Birthday, Cassian!

Den Link zum Film gibt’s   >> H I E R <<

Hutterer: Das vergessene Volk

Huttermaedchen in Manitoba. Copyright Herbert Bopp

Heute drehen wir mal kurz die Zeit zurück – und bleiben doch mittendrin im Leben. Besuch bei den „Hutterern“ in der kanadischen Prärie. Rund 42 000 dieser religiösen Sektierer leben auf „Bruderhöfen“, die für sie „Archen im Meer der irdischen Sünden“ sind. Wer eine dieser Farmkommunen besuchen will, braucht Geduld. Und einen Vetter im Himmel.

Hutterer-Schule in James Valley/Manitoba. Copyright Herbert Bopp

Geduld lernt man in Kanada schnell: Geduld, bis der Winter endlich vorbei ist. Geduld, bis die Menschenschlange am liquor store  kürzer wird. Geduld bis der Überholvorgang auf dem Highway abgeschlossen ist, denn alle fahren hier genau 100 Stundenkilometer. Nicht mehr, nicht weniger. Besonders viel Geduld war nötig, bis mein erster Besuch in einer Hutterer-Kolonie eingefädelt war. Wobei wir bei der zweiten Voraussetzung wären: dem Vetter im Himmel. Der hieß wieder einmal Bernd. Als Chefredakteur des deutschsprachigen Kanada Kurier hatte er Kontakt zu einer Hutterer-Kolonie im Süden von Manitoba, unmittelbar an der amerikanischen Grenze.

Kein Spiegel für die Eitelkeiten

Von Winnipeg aus sind es knapp zwei Autostunden bis zur „James Valley„-Kommune. Dort leben in friedlicher Eintracht genau 127 Männer, Frauen und Kinder. Sie betreiben Ackerbau und Viehzucht, züchten Gänse und Truthähne, die sie dann an Großabnehmer in der Stadt verkaufen. Die Hutterer bleiben am liebsten unter sich. Fernsehen ist bis heute nicht erlaubt. Auch Kosmetik- und Garderobenspiegel, in dem man ja seine Eitelkeiten pflegen könnte, sind bei den Hutterern tabu.

Es sind Selbstversorger, diese etwas schrulligen, aber durchaus liebenswerten Menschen. Die Männer tragen schwarze Anzüge mit weißem Hemd, die Frauen Kopftücher. Alle Mahlzeiten werden in einem Gemeinschaftsraum eingenommen. Erst sind Kranke, Alte und kleine Kinder an der Reihe. Dann die Männer. Und zum Schluss die Frauen, die das Essen gekocht haben. Alice Schwarzer würde wahnsinnig werden.

„Jeder gibt, wos’r kann und kriegt wos ihm not ist.“

Die  Hutterer haben eine tragische Geschichte hinter sich. Als ihr Gründer Jakob Hutter 1536 wegen seines Glaubens in Innsbruck hingerichtet wurde, machten sich seine Anhänger auf eine Odyssee, die sie in viele Teile der Welt führte. Zunächst verteilten sie sich in Europa. Vor etwa 160 Jahren ließen sie sich dann in Kanada nieder. Die USA wären ihnen auch recht gewesen. Aber als Pazifisten würden sie nie in den Krieg ziehen. Es sind im christlichen Sinne Kommunisten, die nach dem Motto leben: „Jeder gibt, wos’r kann und kriegt wos ihm not ist.“ So einfach ist das. Es ist ein fast vergessenes Volk, das Privateigentum schon 300 Jahre vor Karl Marx abgeschafft hat. Ihre Sprache ist für uns schwer verständlich. Es ist eine Mischung aus Tirolerisch/Kärntnerisch/Deutsch, mit vielen englischen Brocken dazwischen.

Wichtigste Frage: „Hoscht scho a Görlfränd?“

Als „Weltmensch“ hat man es nicht leicht, Zugang zu den Hutterern zu finden. Bernd hatte mir mit seinem Wissen über diese wundersamen Menschen eine Tür geöffnet. Durch die gehe ich an diesem Spätsommertag und finde eine Gemeinschaft vor, wie ich sie bis dato nie erlebt hatte. Die wichtigste Frage zuerst: „Hoscht scho a Görlfränd?“. Bernd hatte mich gewarnt: Bei dieser Frage ist eine kleine Notlüge erlaubt. „Görlfränd“ schon. Zusammenleben ohne Trauschein: nie und nimmer. Das würde die Moralvorstellungen dieser christlichen Wiedertäufer völlig durcheinander bringen.

Argwöhnisch schauen sie mich an, diese Bauern, aber auch sehr liebevoll. Ganz selten nur kommt ein Nicht-Hutterer zu Besuch. Und ist es dann „a Deitscher“ wie ich, wird er hofiert, als wäre er Jakobs Bruder persönlich. Mit meinem Schwäbisch genieße ich bei den Hutterern Heimvorteil. Sie verstehen meinen Dialekt vermutlich besser als wenn ich „nach der Schrift“ mit ihnen reden würde.

Spezialität des Hauses: Vergorener Löwenzahnsaft

Essenszeit. Es gibt weichgekochte Entenfüße, Kartoffelknödel und eine sämige Pilzsoße. Als Getränk schleppen die Frauen gallonenweise Apfelsaft heran. Ganz zum Schluss wird dem Besucher aus der Stadt noch eine Spezialität des Hauses kredenzt: „Blömmelwein“, vergorener Löwenzahnsaft, der ganz entfernt nach Alkohol schmeckt. Gebetet wird vor dem Essen, danach und oft auch zwischen den einzelnen Gängen. Mit dem gemeinsamen Kirchgang geht der Tag zu Ende. Es gibt kein Kreuz, keine Bilder, keinen Kirchenschmuck. Ein kahler Raum, hell erleuchtet. Die Männer links. Frauen und Kinder rechts.

Schmuck stört. Ob es Kirchenschmuck, Hausdekoration oder persönlicher Schmuck ist. Der liebe Gott duldet keine Eitelkeit. Aber weil auch Hutterermädchen nur Menschen sind, tricksen sie den Herrgott schon mal aus. Wenn schon keine Juwelen, dann wenigstens eine Brille als kosmetisches Attribut. Eine Brille mit Fensterglas, sonst nichts. Doch die Zeit ist auch auf den Archen Gottes nicht stehen geblieben. Immer mehr junge Hutterer verlassen jetzt die Kolonien ihrer Vorfahren und suchen Arbeit in der Stadt. Mischehen zwischen Hutterern und nicht-hutterischen Kanadiern gibt es offiziell nicht.

Nach Jahren wieder einmal Gast im Bruderhof

Die Erinnerung an meinen ersten Reporter-Besuch auf einer Hutterer-Kolonie hat mich nie mehr losgelassen. Neulich war ich nach vielen Jahren wieder einmal zu Gast in einem Bruderhof. Diesmal war Lore dabei. Für sie war es das erste Mal überhaupt. Die Herzlichkeit, mit der sie empfangen wurde, rührte sie fast zu Tränen. Jetzt hatte „der Deitsche“ auch noch „eine Deitsche“ mitgebracht – mehr geht nicht bei Hutterers.

Mein inzwischen verstorbener Freund und Kanada-Mentor Bernd Längin hat ein Buch über die Hutterer veröffentlicht. Es ist bei „Rasch und Röhring“ erschienen und heißt „Die Hutterer. Gefangene der Vergangenheit. Pilger der Gegenwart. Propheten der Zukunft“. ISBN-Nr. 3-89136-061-4

Viele Jahre nach meinem ersten Besuch auf einer Hutterer-Kolonie habe ich für das Deutsche Fernsehen einen Film über eine dieser „Archen im Meer der irdischen Sünder“ gedreht. Ein Ausschnitt davon ist auf YouTube zu sehen.

Es könnte sein, dass der Film wegen der Gema-Bestimmungen auf Ihrem Rechner nicht ausgespielt wird. (Geo-Blocking). Probieren Sie’s einfach mit dem direkten Link zum Video.Oder geben Sie ins YouTube-Suchfenster „Herbert Bopp“ ein.